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Samuraisommer

Samuraisommer

Titel: Samuraisommer
Autoren: Ake Edwardson
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wollte, dass sie mich wieder ansah.
    „Wie immer“, sagte sie und drehte den Kopf. „Nur heißer.“ Erneut
holte sie das Taschentuch hervor und wischte sich über die Stirn. „Im Sommer
ist es in der Stadt heißer als auf dem Land.“
    „Mich darfst du nicht fragen“, sagte ich.
    „Aber es gefällt dir doch hier, Tommy?“
    Ich antwortete nicht.
    „Ke... Kenny.“ Ich sah, dass sie sich anstrengen musste, um meinen
richtigen Namen auszusprechen. „Dir gefällt es doch hier draußen“?“
    „Ich habe keinen Vergleich“, sagte ich.
    „Die Stadt ist immer so voll. Das solltest du sehen.“
    „Ja, genau.“
    „Dies ist doch dein letzter Sommer hier.“ Ich antwortete nicht.
    „Dann musst du dich an den Sommer in der Stadt gewöhnen.“
    „Du wirst schon einen anderen Platz finden, wo du mich hinschicken
kannst.“
    „Du bist ungerecht, Tommy.“
    „Wer ist Tommy?“, fragte ich.
    „Also Kenny.“ Es klang wie ein Seufzer.
    Sie wusste nichts von Gerechtigkeit, aber das wollte ich ihr nicht
sagen. Sie würde es ja doch nicht verstehen.
    „Wäre Papa noch da, dann säße ich nicht in diesem Gefängnis“, sagte
ich.
    Das fand sie vermutlich auch ungerecht. Aber sie sagte nichts.
Plötzlich fühlte ich mich merkwürdig. Als hätte ich mehr gesagt, als ich sagen
sollte. Und sehr viel mehr, als ein Samurai sagen würde. Es war nicht ihre
Schuld, dass Papa nicht da war. Plötzlich war er verschwunden. Es war drei
Jahre her. Er sagte „tschüs“ und dann ging er und kam nie wieder.
    Bei seiner Beerdigung hatte er lange Haare, und seine Haare waren
weiß, weiß von der Sonne. Ich ging zu seinem Sarg und verabschiedete mich.
Mutter brüllte wie eine Kuh. Es hallte wider zwischen den weißen Wänden der
Kirche. Ich wollte, dass sie aufhörte. Ich weiß nicht, warum, aber ich wollte,
dass es in diesem Moment ganz still in der Kirche wäre. Totenstill.
    Danach haben sie Mutter in ein Erholungsheim geschickt. Ich musste bei
Großmutter wohnen, aber sie konnte kaum noch gehen, bei ihr war es also nicht
gerade wie in einem Erholungsheim.
    Als ich neben Vater stand, der im Sarg lag, musste ich an den Tod
denken. Das war wohl ganz natürlich. Und als ich mehr darüber lernte, was es
bedeutet, Samurai zu sein, verstand ich, was der Tod ist. Er ist nichts. Man
muss jeden Tag damit rechnen zu sterben. Dann ist man bereit, wenn der Tod
kommt. Dann ist man ruhig. Es ist gar nicht schlimm.
    Jeden Morgen sucht sich der Samurai einen ruhigen Platz, um seinen
Kopf von allen unruhigen Gedanken zu befreien. Dann versucht er sich genau in
den Moment, in die Sekunde zu versetzen, wenn er von Pfeilen, Gewehrkugeln,
Lanzen oder Schwertern durchbohrt wird. Ins Feuer geworfen, vom Blitz getroffen
wird. Von einem Erdbeben zerschmettert. Von einer Klippe hinuntergestoßen. An
einer Krankheit stirbt. Oder vom Zug überfahren wird.
    Vielleicht alles auf einmal.
    Der Samurai sagt: Stirb jeden Tag im Kopf, dann wirst du den Tod nicht
fürchten. Denk jeden Morgen und jeden Abend an den Tod.
     
    „Kenny“?“, hörte ich Mutters Stimme. Sie klang weit entfernt, als
säße sie in einer anderen Welt.
    „Was ist?“, fragte ich nach einer Weile.
    „Du bist so still.“
    „Hab ich nicht als Letzter was gesagt 1 ?“
    „Du hast ausgesehen, als würdest du an etwas denken“, sagte sie.
    „Es wäre doch komisch, wenn man an nichts denken würde, oder? An etwas
denkt man doch immer.“
    „An was hast du denn gedacht?“, fragte sie lächelnd. „An nichts“,
antwortete ich.
     
    Ich habe Mutter nie erzählt, was mit den Schokoladenbonbons passiert ist.
Das wollte ich allein herausfinden.
    Die Sonne schien immer noch, als der Große Besuchstag zu Ende ging,
obwohl es schon Abend war. Wir waren wieder allein, alle vierzig. Einige
Mädchen weinten, aber leise.
    Eine von ihnen saß abseits auf einem starken Ast, der über die Bucht
ragte, in der wir uns morgens und abends wuschen.
    Ich weiß nicht, warum ich zu ihr gegangen bin. Vielleicht hatte ich
etwas gesehen, das die Wasseroberfläche kräuselte, einen großen Hecht
vielleicht. Ich glaube nicht, dass mich jemand zu ihr hingehen sah.
    Zwei der kleineren Kinder drehten sich langsam auf dem Karussell, ohne
zu rufen oder auch nur zu reden. Alle schienen an ihre Mütter oder Väter zu
denken.
    Das Mädchen auf dem Ast hieß Kerstin. Ich kannte sie nicht, wusste
aber die Namen von den meisten.
    Kerstin wischte sich über die Augen. Sie hatte langes Haar, das fast
golden in der Sonne
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