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Samuel und die Liebe zu den kleinen Dingen

Titel: Samuel und die Liebe zu den kleinen Dingen
Autoren: Francesc Miralles
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keinen Augenblick zur Ruhe kommt.
    Seit ich aufgestanden war, kam es mir vor, als sollte mein gesamtes Schicksal auf Biegen und Brechen in diesen einen Tag hineingepresst werden. Um in diesem Strudel der Ereignisse nicht unterzugehen, musste ich versuchen, das Tempo zu drosseln. Nach Titus’ Offenbarung war ich mit dem festen Vorsatz in meine Wohnung zurückgekehrt, mir keine Sorgen mehr zu machen. Sollte tatsächlich noch eine Katastrophe eintreffen, würde ich mich dann mit ihr beschäftigen, wenn es so weit war, und nicht früher.
    Eine Zeitschrift, die ich abonniert hatte, enthielt einen Artikel über Mendelssohn, der mich dazu anregte, Barenboims Lieder ohne Worte aus ihrer Verbannung hervorzuholen. Ich fläzte mich aufs Sofa und widmete mich der Lektüre, es war ein kleiner literarischer Essay über den Komponisten. Der Autor war ein gewisser Andrés Sánchez Pascual, und der Text schien mir sehr gelungen. Zu Mendelssohns Musik schrieb er:
     
    Der Genuss, den sie vermittelt, ist nicht einfach, trivial oder plump, es ist ein ganz zarter und feiner Genuss, voller Melancholie, und vielleicht am treffendsten mit der lateinischen Vokabel serenitas zu bezeichnen.
     
    Außerdem ging der Artikel auf die Beziehung zwischen Goethe und Mendelssohn ein. Bereits im Alter von zwölf Jahren habe sich der Komponist als begabter Pianist hervorgetan und sei sogar bei einem Besuch beim großen Dichter dazu genötigt worden, täglich acht Stunden zu spielen. Tatsächlich bedurfte es Mendelssohns, um Goethe, Jahre später, zur Musik Beethovens zu bekehren, von dem Goethe nichts hatte wissen wollen.
    Aus meinen Boxen tönte bereits das zweite Gondellied , als ich auf eine kuriose Anekdote über die Lieder ohne Worte stieß . Als Mendelssohn 1842 von einem Verwandten seiner Frau gefragt wurde, was er mit diesen Kurzstücken habe ausdrücken wollen, hatte er in einem Brief geantwortet:
     
    Es wird so viel über Musik gesprochen, und so wenig gesagt. Ich glaube überhaupt, die Worte reichen nicht hin dazu, und fände ich, daß sie hinreichten, so würde ich am Ende gar keine Musik mehr machen [...]. Das, was mir eine Musik ausspricht, die ich liebe, sind mir nicht zu unbestimmte Gedanken, um sie in Worte zu fassen, sondern zu bestimmte.

DER FEUCHTE KÄFIG DES MONDES
    Es klingelte an der Tür, und alle serenitas war dahin. Ein lautes Räuspern verriet mir, dass es Titus mit einer Neuigkeit war. Ich bat ihn herein, und der alte Redakteur tätschelte mir liebevoll den Rücken, was äußerst ungewöhnlich war. Unterm Arm trug er eine mit Gummibändern zusammengehaltene Mappe.
    »Stört Sie die Musik?«, fragte ich und drehte die Lautstärke herunter.
    »Was mich stört, ist, dass du so bescheiden bist.« »Was meinen Sie?«, fragte ich, während ich es mir wieder auf dem Sofa bequem machte.
    Titus setzte sich in den Sessel und sagte: »Der Kleine Lehrgang in Alltagsmagie ist großartig geworden. Meinen Glückwunsch. Morgen schicke ich das Manuskript an den Verleger. Natürlich bekommst du das gesamte Honorar! Keine Widerrede.«
    »Aber ... wovon reden Sie? Ich kann mich nicht erinnern, mehr als fünfzehn Seiten geschrieben zu haben.«
    »Also ich habe hundertachtundzwanzig gezählt«, sagte er und öffnete die Mappe, in der sich ein Stapel Papier befand. »Du bist nicht nur bescheiden, sondern auch ein ganz schöner Schwindler, wie es scheint.«
    »Lassen Sie mal sehen«, bat ich und riss ihm den Stapel aus den Händen; ich war mir sicher, dass er sich über mich lustig machte.
    Ich blätterte rasch die Seiten durch und stellte fest, dass die Arbeit, so unerklärlich es war, ganz sorgfältig zu Ende gebracht worden war. Jedes der sieben Kapitel – einschließlich der »Liebe im Kleinen« – umfasste knapp zwanzig Seiten voller inspirierender Passagen.
    Die Anthologie schloss mit einem traditionellen keltischen Vers:
     
    Fürchte nicht die Magie der Druiden,
    auch du bist ein tüchtiger Magier.
    Du kannst die Geister der Nacht herbeirufen
    und den Mond in eine Pfütze sperren.
     
    Immer noch völlig perplex, gab ich Titus die Blätter zurück und sagte: »Geben Sie Valdemar das Geld, wenn Sie ihn finden. Das hier ist ohne Zweifel sein Werk.«
     
    Den restlichen Nachmittag verbrachte ich damit, Titus von Valdemar zu erzählen: wie ich ihn in dem Café kennengelernt hatte, von seinem Unfall in Patagonien und dem mysteriösen Leuten in der U-Bahn, wie er mitten in der Nacht bei mir aufgetaucht war und von unseren nächtlichen
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