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Samuel und die Liebe zu den kleinen Dingen

Titel: Samuel und die Liebe zu den kleinen Dingen
Autoren: Francesc Miralles
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Meister der Meditation empfehlen für den Fall, dass man versucht, an nichts zu denken und sich dennoch ein hartnäckiger Gedanke einstellt, das Folgende: Man soll sich vorstellen, der quälende Gedanke sei eine Wolke, die man mit dem Etikett »Gedanke« versieht und dann vorbeiziehen lässt, ohne über sie zu urteilen. Gedanken sind weder gut noch schlecht, es sind einfach nur Gedanken.
    Ohne es darauf anzulegen, hatte ich diesen neutralen meditativen Zustand erreicht, wenngleich ich sehr weit davon entfernt war, das Leben oder meine Rolle darin zu begreifen. Jedenfalls hielt mich dieser Zustand fern von der Welt und von meinen eigenen Sehnsüchten, bis ich es wieder mit ihnen aufnehmen musste.
    Ein Maunzen in der Dunkelheit bedeutete mir, dass Mishima mir nicht mehr böse war und nun meine Aufmerksamkeit forderte. Ich stand also auf, da ich annahm, sie hätte kein Futter oder kein Wasser mehr, oder sie wollte, dass ich ihr Klo sauber machte. In diesen Dingen ist sie sehr anspruchsvoll. Doch sowohl die Näpfe als auch das Katzenklo schienen in bester Ordnung. Warum also hatte sie mich geweckt? Eine Katze hat immer ihre Gründe.
    Während ich unschlüssig in der Küche stand und mich nicht entscheiden konnte, ob ich Kaffee kochen sollte oder nicht, bemerkte ich, dass im Wohnzimmer ein Blatt Papier auf dem Teppich lag. Es musste Titus aus der Mappe gefallen sein.
    Meine Erlebnisse der letzten Monate hatten mich gelehrt, dass es keine echten Zufälle gab und dass diese Seite, die da so demonstrativ auf dem Boden lag, aus einem besonderen Grund dort liegen musste. Ich hob sie auf und setzte mich aufs Sofa.
    Die Seite gehörte zur Rubrik »Das Herz in der Hand« und war eine offenbar wahre Anekdote über den ersten Parisaufenthalt des jungen Rainer Maria Rilke:
     
    Jeden Mittag ging der Dichter in Begleitung eines jungen Mädchens auf einem Platz an einer Bettlerin vorbei, die die Hand ausgestreckt hielt. Die Frau saß immer an derselbenStelle, sie schaute die Vorübergehenden nicht an, noch bat sie um Almosen, und sie zeigte auch keine Dankbarkeit, wenn ihr jemand etwas gab. Während seine Freundin des öfteren eine Münze spendete, gab Rilke der Frau niemals Geld. Einmal fragte das junge Mädchen den Dichter, weshalb er ihr nichts gab, und er antwortete: »Man müßte ihrem Herzen schenken, nicht ihrer Hand.«
    Einige Tage später legte Rilke der Bettlerin eine Rose in die rissige Hand. Da geschah etwas Unerwartetes: Die Frau hob den Blick, küsste die Hand des Dichters und ging davon. Der Platz der Bettlerin blieb eine Woche lang leer, bevor sie sich wieder dort niederließ.
    »Wovon mag sie all die Tage gelebt haben?«, fragte das Mädchen.
    Und Rilke gab zur Antwort: »Von der Rose.«

DER KREIS SCHLIESST SICH
    Ohne mich damit aufzuhalten, Titus die Seite zurückzubringen, fand ich mich unversehens auf der Straße wieder. Ich war entschlossen, mich auf den Weg ins Zentrum zu machen, und zwar zu Fuß.
    Es war eine dieser Entscheidungen, die man erst viel später begreift. Meiner Intuition und dem Leitmotiv des Tages folgend: »Heute kann alles passieren«, beschloss ich, zum Plattenladen zu gehen.
    Mit Titus’ Rückkehr, Valdemars Verschwinden und der Entdeckung des Manuskripts gab es genügend Fragezeichen in meinem Leben, sodass ich das Bedürfnis hatte, wenigstens eine Angelegenheit zu klären, die ausschließlich von mir abhing. Da ich Gabriela beleidigt hatte, musste ich sie um Verzeihung bitten. Nur so konnte ich diese schmerzhafte Geschichte endlich abschließen.
    Diesmal wollte ich mich nicht verstellen, wollte nichts inszenieren. Ich würde einfach nur in den Plattenladen gehen, mich bei Gabriela für mein Verhalten entschuldigen und ihr alles Gute wünschen. Damit wäre ein Stück Ordnung wiederhergestellt. Früher oder später würde die Wunde der Liebe sich schließen, und ich konnte zu meiner einsamen Ruhe zurückfinden.
     
    Als ich ankam, ließ Gabriela gerade das Metallgitter herunter. Aus Sorge, ich könnte ihr zu nahe treten, blieb ich in einiger Entfernung stehen. Bevor sie mich entdeckte, wappnete ich mich mit aller serenitas der Welt und wiederholte im Stillen die Entschuldigung, die ich auf dem Weg hierher vorbereitet hatte.
    Doch als sie sich umdrehte und mich aus ihren Mandelaugen ein flammender Blick traf, blieb ich stumm. Ich wollte eben zu meinem kleinen Vortrag ansetzen, als sie mir zuvorkam: »Ich rufe seit gestern laufend bei dir an und die ganze Zeit ist besetzt«, sagte sie. »Warum
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