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Samuel Koch - Zwei Leben

Samuel Koch - Zwei Leben

Titel: Samuel Koch - Zwei Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Fasel
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hat, mit seiner Behinderung ein selbstbestimmtes, erfülltes Leben zu führen.
    Doch auch da, wo Martin steht, bin ich leider noch lange nicht.
Das Experiment
    Mein Weg hat gerade erst begonnen. Während wir dieses Buch aufzeichnen, versuche ich, meinem Leben eine neue Struktur und Ausrichtung zu geben. Bislang war alles gekennzeichnet vom Ausnahmezustand. Jetzt wird es Zeit, das zu beenden.
    Im April 2012 nehme ich mein Studium an der Hochschule in Hannover wieder auf. Ich bin froh, dass der Studiengangssprecher und die Dozenten sich darauf einlassen, es mit mir zu probieren. Das ist ein Experiment, bei dem noch niemand einschätzen kann, ob und in welchem Rahmen es funktionieren kann. Nein, beim Fechtunterricht werde ich genauso wenig Punkte sammeln wie beim Tanzen oder Reiten. Aber ich will versuchen, in der Atmosphäre und mit den Freunden, die ich in Hannover kennen- und liebengelernt habe, mein zukünftiges Leben zu sortieren. Das kann auch ein Weg in eine abgewandelte oder ganz andere Richtung sein. Wer weiß. Auf jeden Fall aber will ich weitermachen, mich bewegen, nicht stagnieren. Und ich möchte so schnell wie möglich wieder Steuerzahler werden und nicht Empfänger von irgendwelchen Sozialleistungen.
    Mein Körper ist gelähmt. Mein Geist ist es nicht. Auch wenn Menschen mich manchmal so ansprechen, als wäre ich auch geistig behindert. Viele scheinen da unbewusst eine Verknüpfung herzustellen. Doch ein Naturwissenschaftler wie Stephen Hawking schreibt fantastische, geistig klare Bücher, obwohl er seit vielen Jahren an den Rollstuhl gefesselt ist.
    Wie früher kann ich mich für fast zu viele Gebiete begeistern. Mathematik hat mich immer interessiert. Ebenso Theologie oder Philosophie, nicht zu vergessen Literaturwissenschaft, Physik oder Jura. Mein Kindheitstraum war es, Meeresbiologe zu werden. Meine Wissbegier ist mir nach wie vor erhalten geblieben. Es gibt einfach viel zu viel zu entdecken.
Aufbruchsstimmung
    Ich kann heute mehr als in den Wochen nach meinem Unfall. Aber für meinen Geschmack ist das immer noch reichlich dürftig. „Lässt sich einrichten!“, sagte ich auf der Intensivstation zu meinem Vater, als er mich fragte, ob ich zu seinem Geburtstag wieder gehen könnte.
    Lässt sich leider nicht einrichten, weiß ich heute. Meine Behandlung ist von kleinen Erfolgen, viel Stillstand und manchem Rückschritt geprägt. Vor dem Unfall habe ich nie irgendwelche Medikamente auch nur angeschaut. Inzwischen habe ich dank diverser Infekte schon mindestens die hundertste Antibiotikatablette verschlungen. Mein Körper ist einfach ein Langweiler und ein Waschlappen geworden. Doch die Ärzte mahnen zur Geduld. „Niemand kann sagen, welche Fähigkeiten Samuel zurückerlangen kann. Und vor allem nicht, wann das sein könnte.“
    Leute, die mich 14 Tage oder drei Wochen nicht gesehen haben, unterstellen mir die tollsten Fortschritte. Ich höre immer wieder Sätze wie: „Du siehst ja so viel besser aus! Wie viele neue Bewegungen du schon kannst!“ Wenn ich also seit einem Jahr täglich gut aussehender und beweglicher geworden wäre, müsste ich mittlerweile eine Mischung aus Hulk, Superman und einem Model sein.
    Ich jedenfalls finde, dass das recht weit hergeholt ist mit meinen Fortschritten. Jedenfalls kommt es mir so vor. Alles geht so langsam, und ich bin so ungeduldig, und wenn ich könnte, könnte ich aus der Haut fahren.
    Meine Schultermuskulatur kann ich weiter aufbauen, ebenso wie einen Oberarmmuskel. Aber beim restlichen Arm und den Händen bin ich noch nicht richtig weitergekommen. Meine Hände hängen immer noch herunter wie abgestorbene Tintenfischtentakeln, mit meinen Fingern kann ich nichts greifen oder halten. Aber ich kann wenigstens nach wie vor ohne technische Unterstützung atmen. Das ist nicht unbedingt selbstverständlich bei meiner Lähmungshöhe. Meine Vitalfunktionen wie Atmung und Kreislauf stabilisieren sich zunehmend.
    Die Entdeckung meines kleinen Zehs, in den die Bewegungsfähigkeit einige Monate nach dem Unfall zurückkehrte, haben wir geradezu frenetisch gefeiert. Ein kleiner Zeh! Wie würde ich feiern, wenn das Gefühl in einen Finger oder gar in einen ganzen Arm zurückkehren würde! Nein, ich will nicht undankbar sein. Was ich am dringendsten brauche, ist Geduld – aber bitte ein bisschen plötzlich!
    Die meisten kennen das Gefühl, wenn einen

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