Samuel Koch - Zwei Leben
einer Stelle überqueren, um ins Nachbardorf zu gelangen. Der Verkehr war dicht, ich musste mich sputen und gab Gas. Was ich nicht wusste, war, dass diese StraÃe extreme Spurrillen hat. Mein Rollstuhl hob ab, als ich beschleunigte. Dabei kippte ich vornüber und hing dann mit dem Kopf zwischen den Knien da; meine Arme baumelten nach unten auf die StraÃe. Der Rollstuhl hielt an, der Joystick fiel in Ruheposition zurück. Wenigstens wurde daraus keine weitere Geisterfahrt!
Der Wagen, vor dem ich eigentlich noch die StraÃe hatte überqueren wollen, hielt knapp vor mir an, der Fahrer sprang schockiert heraus, rasch stauten sich die Autos hinter ihm und auch auf der Gegenfahrbahn.
Komisch erschien mir die Frage des Fahrers, der sagte: âKann man Ihnen helfen?â
Mir lag auf der Zunge zu sagen: âAch, nein, nicht doch, wie Sie sehen können, genieÃe ich hier die Aussicht!â Aber die kleine Boshaftigkeit habe ich mir dann doch verkniffen und sagte: âEs wäre nett, wenn Sie mich wieder hinsetzen könnten!â Das hat er dann getan, ich habe mich verabschiedet: âDanke fürs Nichtüberfahren und schöne Weihnachten noch!â Dann habe ich zugesehen, dass ich mich den neugierigen Blicken entziehe, und fuhr davon.
Nach solchen Erlebnissen liegt der Gedanke nahe, sich anzugurten, was mir vom Klinikpersonal des Ãfteren empfohlen worden war, aber ich mag diesen Gurt einfach nicht. Ich bin sowieso schon an den Rollstuhl âgefesseltâ, wie man so schön sagt, da möchte ich nicht noch zusätzliche Fesseln an mir sehen. Natürlich ist die Sturzgefahr ohne Gurt gröÃer. Und gerade für mich als komplett Gelähmten können die Folgen gravierend sein. Denn anders als ein Mensch, der seine Arme und Hände benutzen kann, kann ich mich ja in keiner Weise abfangen oder schützen. Mein Kopf und mein Rumpf sind jedem Sturz ungebremst ausgeliefert.
Der erste Salto
In den zweifelhaften Genuss dieses Gefühls kam ich ein paar Wochen nach meinem Weihnachtsunfall ein zweites Mal. Auf dem EXPO-Gelände in Hannover, dem Ort der damaligen Weltausstellung, rollte ich nach zwei Gottesdiensten, bei denen ich zu Gast sein durfte, zurück zum Auto. Ich war allein unterwegs, meine Schwester und Mama waren vorausgegangen, um den Wagen aufzuschlieÃen. Wer das EXPO-Gelände kennt, weiÃ, dass es ein bisschen futuristisch gestaltet ist, mit Stufen, schiefen Ebenen, Rampen.
Mir war kalt und der Weg grob gepflastert. Die Erschütterungen lösten Krämpfe auch in meinem rechten Arm aus, mit dem ich den Joystick bediene. Der Arm verkrampfte sich innerhalb weniger Augenblicke und es geschah das, was mir aus früheren Erlebnissen nun schon bekannt ist: Mein Arm streckte sich ohne mein Zutun und gegen meinen ausdrücklichen Willen durch. Der Rollstuhl gab Vollgas und schoss nach vorne.
Die Rampe, auf der ich mit wachsender Geschwindigkeit und unkontrolliert unterwegs war, verjüngte sich nach oben hin. Neben mir befand sich ein zwei Meter tiefer Abgrund, auf der anderen Seite ein Bordstein mit Grünstreifen. Ich fand mich in einem Albtraum wieder: Noch nicht einmal schreien konnte ich, da der Krampf auch irgendwie das Zwerchfell blockierte.
Gott sei Dank verringerte sich im Laufe der Strecke wenigstens die Tiefe des Abgrunds neben mir. Der Stuhl schoss ungebremst nach vorn, ich war unfähig, ihn zu beeinflussen.
Meine Mutter erkannte die Situation und rannte auf mich zu, konnte aber meine Hand zuerst nicht vom Joystick lösen, weil sie sich fest um die Steuerung gekrampft hatte. Endlich riss sie meine Hand los, doch es war zu spät.
Der Rollstuhl schrammte mit der rechten Seite über die Kante, überschritt den Kipppunkt und fiel in die Tiefe. Ich stürzte hinaus, überschlug mich und landete auf dem Rücken. Der Rollstuhl fiel zum Glück nicht auf mich.
Im Fallen hatte ich ein eigentümliches Gefühl von Schwerelosigkeit und zugleich Panik gespürt. Ich kann mich nicht abfangen! Ich war dem Sturz ausgeliefert, fiel ins Bodenlose und war mir sicher, dass ich mir gleich allerhand Knochen brechen werde.
Passanten stürzten in heller Aufregung herbei und starrten ratlos auf mich hinunter. Ich war wie immer nach solchen Schreckmomenten entspannt. Panik hatte ja auch keinen Zweck. Ich sollte einen kühlen Kopf bewahren, um jeden, der mir helfen will, genau anzuweisen: Nicht unter meine Achseln fassen, da die
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