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Samarkand Samarkand: Roman (German Edition)

Samarkand Samarkand: Roman (German Edition)

Titel: Samarkand Samarkand: Roman (German Edition)
Autoren: Matthias Politycki
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dickeren Äste kreuzten. In wenigen Minuten würde er ein Feuer gemacht haben, darauf zunächst Tee, dann einen Topf voll Nudeln. Die Antwort auf Kaufners Frage blieb er schuldig, sagte stattdessen schließlich:
    »Einem Januzak begegnet man nur einmal. Er ist alt oder jung, keiner weiß es. Aber er kann den Hals eines Menschen mit einer einzigen Hand zudrücken. Und er tut es auch.«
    »Sag mal, du hast ja noch mehr Angst vor ihm gehabt als ich?«
    Odinas Antwort blieb erneut aus. War’s nur sein Stolz, der ihm verbot, zuzugeben, daß er am
Kobrafelsen
gezittert hatte? Seine Angst konnte nicht gespielt gewesen sein, mit Januzak steckte er gewiß nicht unter einer Decke.
    »Das Gesetz der Berge …« hob der Junge schließlich gereizt an, indem er ein Streichholz entfachte, »es hätte unser letzter Tag sein können.«
    »Unser beider?« stichelte Kaufner, Odina sprang von seinen sorgsam angeordneten Zweigen auf, das brennende Zündholz zwischen den Fingern, sagte indes nichts. Man hörte die Berge atmen. Der Himmel war dunkelgrau, in wenigen Minuten würde’s Nacht sein.
    »Ich kenne euer ›Gesetz der Berge‹«, ließ Kaufner nicht ab, Odina zu bedrängen. »Was ich davon halte, weißt du. Was hat es denn zu plötzlichen Begegnungen mit Kirgisen zu sagen?«
    Kaufners abschätziger Tonfall verfehlte seine Wirkung nicht, ungeachtet des brennenden Streicholzes warf sich Odina in die Brust: »Wir gehen mit unserm Herrn, und wenn wir ihn nicht sicher durchs Gebirge bringen, gehen wir mit ihm auch in den Tod. So will es das Gesetz.«
    »Das verlangt es tatsächlich?« Einen Atemzug lang war Kaufner verblüfft. Im nächsten fragte er sich, ob Odina vielleicht ein wenig verrückt war. Wie laut er auf ihn einredete! Während er gestikulierte, verlosch das Zündholz, er hatte sich gewiß die Finger verbrannt:
    »Herr, ich bin aus dem Pamir! Wir haben viel höhere Gebirge als hier, unsere Ehre gilt uns viel mehr als unser Leben. Aber das versteht ihr nicht.«
    Mit »ihr« meinte er »ihr aus dem Westen«, so viel war im Verlauf der gemeinsamen Wanderungen klargeworden, wobei der Westen für Odina schon in Samarkand begann, eine verweichlichte Stadt in seinen Augen mit verweichlichten Bewohnern, Schergen wechselnder Herren, unzuverlässig, verächtlich.
    »Sieh mal einer an, das verstehen wir nicht«, Kaufner verschränkte die Arme vor der Brust: »Du willst mir also sagen: Wenn mich Januzak getötet hätte, hätte er danach auch dich –?«
    »Nein, das hätte er nicht, er kennt das Gesetz.« Odina zögerte, tat so, als fände er keinen passenden Begriff auf Russisch.
    »Du hättest es selber tun müssen?« gab sich Kaufner mit einem Mal verständnisvoll, um das Lauernde in seiner Frage zu überspielen: »Das Gesetz der Berge?«
    »Und keiner von uns, der es jemals mißachtet hätte.«
    Jetzt erst besann sich Odina des Zündholzes, warf es verärgert zu Boden. Ohne einen Blick auf seine Finger zu werfen, wandte er sich dem zu, was es vor Einbruch der Dunkelheit zu erledigen gab. Während des Essens richtete er überraschenderweise noch einmal das Wort an Kaufner, lenkte dessen Augenmerk nach Westen, in die Ebene, die sich zwischen den Ausläufern des Turkestangebirges auftat:
    Was am Horizont so leuchte, sei Samarkand. Der Abglanz von Samarkand. Wenn man sich beeile, werde man die Stadtgrenzen morgen nacht erreichen; sofern man erst mal »unten« sei, ließe sich ja auch im Dunkeln weitergehen. Im übrigen: Die Grenze liege längst hinter ihnen. Der restliche Weg ein Kinderspiel. Im Grunde könne man die Augen schließen, man finde ganz von selber hinab, alle Wege führten nach Samarkand.
    Es sollte eine ganze Nacht dauern, bis Kaufner begriffen hatte, warum Odina das überhaupt noch gesagt hatte.

    Alle Wege führen nach Samarkand, so ähnlich hatte es Kaufner schon gehört, als er vor eineinhalb Jahren in Taschkent angekommen war. »Deutsch?« hatte ihn der Fahrer des Sammeltaxis vor dem Flughafen gezielt angesprochen. Um dann, kaum waren sie auf der Autobahn, hartnäckig Neuigkeiten von der Westfront zu erfragen, wie er sie nannte, ob es Deutschland überhaupt noch gebe? Nun, das sollte ein Witz sein, immerhin kämpften die Deutschländer weiterhin an sämtlichen Frontabschnitten, der Taxifahrer war vom usbekischen Staatsfernsehen bestens informiert. Genau genommen wollte er seine Einschätzung der Lage selber geben, angetrieben durch immer neue rhetorische Fragen an seinen deutschen Fahrgast. Die drei Männer auf der
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