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Samarkand Samarkand: Roman (German Edition)

Samarkand Samarkand: Roman (German Edition)

Titel: Samarkand Samarkand: Roman (German Edition)
Autoren: Matthias Politycki
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Rückbank waren damit beschäftigt, Taschen und Tüten festzuhalten, die nicht mehr in den Kofferraum gepaßt hatten. Einmal überholten sie einen galoppierenden Reiter, ein andermal kam ihnen ein Moskwitsch als Geisterfahrer entgegen: Dort, wo ansonsten die Rückbank war, war ein Kalb, es streckte den Kopf aus dem Seitenfenster heraus.
    Der Fahrer konzentrierte sich darauf, den Freien Westen zu verhöhnen. Nämlich das, was davon in Mitteleuropa übrig war, im Grunde waren’s ja nur noch die Deutschländer, die ihn mit einer Inbrunst verteidigten, als hätten sie ihn selber aufgebaut oder zumindest schon immer dort gelebt. Deutschländer! Keine Rede mehr von ausländischen Mitbürgern, Einwanderern der vierten oder fünften Generation; seitdem der Krieg offen ausgebrochen, waren die Türken und mit ihnen gleich alle anderen, woher immer sie gekommen waren und obwohl sie sich ursprünglich gar nicht als Deutschländer bezeichnet hatten, endgültig zu den besseren Deutschen geworden. Zu Deutschen nämlich, die Deutschland zu verteidigen überhaupt noch für notwendig befanden und dazu auch in der Lage waren. Gerade in diesen Wochen wieder, da der Freie Westen an sämtlichen Abschnitten der Front, eine Art Frühjahrsoffensive, von der Panslawischen Allianz unter Feuer genommen worden. Überall dort, wo bloß die bunt zusammengewürfelten Truppen der Bundeswehr lagen, hatte es Durchbrüche gegeben; die Deutschländer hingegen, obwohl Milizenverbände, hatten sogar den russischen Eliteeinheiten standgehalten, widerwillig zollte ihnen der Taxifahrer Respekt. Er unterbrach seine Darlegungen nur, wenn er sich einer der Straßensperren näherte. Kaum war der Kontrollpunkt passiert, streifte er den Gurt wieder ab, gab Gas und wollte wissen, ob’s wahr sei, daß die deutsche Regierung …
    Es war wahr, Kaufner konnte es bestätigen. Vor wenigen Tagen hatte sie offiziell Hilfe von der Türkei angefordert, es war lediglich eine Frage der Zeit, bis reguläre türkische Truppen einmarschieren würden. Zum Wohle Deutschlands, versicherte Kaufner, höchstoffiziell herbeigerufen von Bundeskanzler Yalçin.
    Ob die Türken auch gegen ihre Glaubensbrüder in Stellung gehen würden, die in Frankreich vorrückten? Der Taxifahrer traute es ihnen zu, traute ihnen alles zu. Der
Faust Gottes
allerdings nicht minder, angeblich war Paris bereits gefallen, der Kalif habe Europa von der iberischen Halbinsel bis zur Seine befreit. Befreit! Der Taxifahrer machte kein Hehl daraus, daß ihm das gefiel, er war Usbeke, also kein Freund der Türken: Die hätten sich seit eh und je als Herrenrasse aufgeführt unter den Turkvölkern, keiner diesseits der Roten Wüste wolle mit ihnen gemeine Sache machen.
    Paris gefallen? Kaufner schreckte möglichst unauffällig zusammen, das hatte man in der
Tagesschau
so nicht gemeldet. Sicher?
    Sicher! Der Taxifahrer beteuerte, Gott sei groß, er zeigte auf seine Gebetskette, die am Rückspiegel baumelte, und gab weiterhin Vollgas, vielleicht sein höchstpersönlicher Beitrag, auf daß man einem baldigen Sieg entgegenfuhr.
    Es wurde immer komplizierter. Bald würde man gar nicht mehr wissen, wer genau wo gegen wen kämpfte. Weil ihn der Taxifahrer in seiner Siegessicherheit ärgerte – was bildete er sich ein, Usbekistan war doch mit dem Westen verbündet! Und nicht etwa mit dem Kalifen! –, eröffnete ihm Kaufner, daß der Angriff der Russen mittlerweile an allen Abschnitten der Front zurückgeschlagen und auch in Hamburg wieder die alte Demarkationslinie an der Alster erreicht worden. Das nämlich war der letzte Stand der Kriegshandlungen gewesen, bevor er sich in sein neues Einsatzgebiet abgesetzt hatte. Der Taxifahrer hielt zum ersten Mal den Mund, offensichtlich hatte man die Nachricht hier gar nicht gebracht. Er schüttete sich aus einem Tütchen grünes Pulver unter die Zunge und war fortan beschäftigt, es genußvoll einzuspeicheln. Erst als die letzte Straßensperre am Stadtrand von Samarkand nahte, öffnete er, noch bei voller Fahrt, die Tür spaltbreit und spuckte mehrfach aus.
    Kaufner lag im Schlafsack und fühlte, wie die Kälte der Nacht durch die Zeltplane hereinkam. Bis zum Morgengrauen hatte er Zeit, seinen Gedanken nachzuhängen, seine Erinnerungen neu zu sortieren. Am nächsten Morgen würde er einige Entschlüsse gefaßt haben müssen. Was Odina betraf, was die eigene Mission in den Bergen betraf und ob er sie überhaupt fortführen konnte. Wenn der Junge die ganze Zeit
gegen
ihn gearbeitet
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