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Sag's Nicht Weiter, Liebling

Sag's Nicht Weiter, Liebling

Titel: Sag's Nicht Weiter, Liebling
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zählen. Dreihundertneunundvierzig. Dreihundertfünfzig. Dreihundert …
    Scheiße. Mein Kopf ruckt hoch. Was war das für ein Stoß? Sind wir getroffen worden?
    Okay, keine Panik. Es war nur ein Ruckeln. Es ist bestimmt alles in Ordnung. Wahrscheinlich sind wir nur gegen eine Taube geflogen oder so. Wo war ich?
    Dreihunderteinundfünfzig. Dreihundertzweiundfünfzig. Dreihundertdrei …
    Und das war’s.
    Es ist so weit.
    Alles scheint zu bersten.
    Fast noch bevor ich merke, was geschieht, höre ich die Schreie über meinem Kopf zusammenschlagen.
    O Gott. O Gott o Gott o Gott o … O … NEIN. NEIN. NEIN.
    Wir stürzen ab. O Gott, wir stürzen ab.
    Wir fallen in die Tiefe. Das Flugzeug plumpst durch die Luft wie ein Stein. Da drüben ist ein Mann von seinem Sitz hochgef logen und hat sich den Kopf an der Decke gestoßen. Er blutet. Ich schnappe nach Luft, kralle mich am Sitz fest, damit mir das nicht auch passiert, aber ich spüre, wie ich hochgerissen werde, als wenn jemand an mir zieht oder die Schwerkraft
plötzlich in die andere Richtung wirkt. Ich habe keine Zeit zum Nachdenken. Mein Gehirn kann gar nicht … Taschen fliegen herum, Getränke spritzen durch die Gegend, eine Stewardess ist hingefallen und klammert sich an einem Sitz fest …
    O Gott. O Gott. Okay, es beruhigt sich. Es … es geht wieder.
    Scheiße. Ich kann … ich kann nicht … ich …
    Ich sehe den Amerikaner an, er klammert sich ebenso fest wie ich.
    Mir ist schlecht. Ich glaube, ich muss mich übergeben. O Gott.
    Okay. Es ist … es ist irgendwie … alles wieder normal.
    »Sehr geehrte Fluggäste«, dringt eine Stimme aus dem Lautsprecher, und alle heben den Kopf, »hier spricht der Kapitän.«
    Mir hämmert das Herz in der Brust. Ich kann nicht zuhören. Ich kann nicht denken.
    »Wir erleben soeben Clear-Air-Turbulenzen, möglicherweise bleibt es weiterhin etwas unruhig. Wir haben die ›Anschnallen‹-Schilder wieder angeschaltet und bitten Sie, sich schnellstmöglich zu Ihren Sitzen zu …«
    Es ruckelt wieder ganz schrecklich, und seine Stimme geht im allgemeinen Schreien und Stöhnen unter.
    Das ist wie ein Alptraum. Ein Achterbahn-Alptraum.
    Die Stewardessen schnallen sich ebenfalls auf ihren Sitzen an. Eine wischt sich Blut vom Gesicht. Noch vor einer Minute haben sie fröhlich Erdnüsse verteilt.
    So etwas passiert doch nur anderen Leuten in anderen Flugzeugen. Den Leuten auf den Sicherheitsvideos. Aber mir doch nicht.
    »Bitte bewahren Sie Ruhe«, lässt sich der Kapitän vernehmen. »Sobald wir über weitere Informationen verfügen …«

    Ruhe bewahren? Ich kann nicht mal atmen, geschweige denn Ruhe bewahren. Was sollen wir tun? Etwa einfach stillsitzen , wenn das Flugzeug buckelt wie ein widerspenstiges Pferd?
    Hinter mir höre ich jemanden »Gegrüßet seist du, Maria, voll der Gnade …«, aufsagen, und eine neue Welle von Panik schnürt mir die Kehle zu. Die Leute beten. Das hier ist ernst.
    Wir sterben.
    Wir sterben.
    »Wie bitte?« Der Amerikaner im Sitz neben mir sieht mich mit verkrampftem, weißem Gesicht an.
    Habe ich das gerade laut gesagt?
    »Wir sterben.« Ich starre ihn an. Dies könnte der letzte Mensch sein, den ich lebend sehe. Ich bemerke die Fältchen um seine dunklen Augen, den kräftigen Kiefer und die Bartstoppeln darauf.
    Plötzlich sackt das Flugzeug schon wieder ab, und ich schreie unwillkürlich auf.
    »Ich glaube nicht, dass wir sterben«, sagt er. Aber er klammert sich auch an den Armlehnen fest. »Sie haben doch gesagt, dass es nur Turbulenzen sind …«
    »Natürlich sagen die das!« Meine Stimme klingt hysterisch. »Sie werden ja nicht gerade sagen: ›Okay, Leute, das war’s, ihr habt die längste Zeit gelebt.‹« Das Flugzeug sackt schon wieder ab, und ich greife in Panik nach der Hand des Mannes. »Das schaffen wir nicht. Ich weiß es. Das war’s. Ich bin erst fünfundzwanzig, verdammter Mist. Ich bin noch nicht bereit. Ich habe überhaupt noch nichts erreicht. Ich habe keine Kinder, ich habe noch niemandem das Leben gerettet …« Mein Blick fällt auf den Artikel »30 Dinge, die man tun muss, bevor man 30 wird«. »Ich habe noch keinen Berg bestiegen, ich bin nicht tätowiert, ich weiß nicht mal, ob ich einen G-Punkt habe …«

    »Wie bitte?«, sagt der Mann, etwas erstaunt, aber ich höre ihn kaum.
    »Meine Karriere ist ein Witz. Ich bin überhaupt keine tolle Businessfrau.« Mit Tränen in den Augen zeige ich auf mein Kostüm. »Ich habe überhaupt kein Team! Ich bin bloß eine blöde
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