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 Sagen des klassischen Altertums

Sagen des klassischen Altertums

Titel: Sagen des klassischen Altertums
Autoren: Michael Köhlmeier
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stolzen Mann haben. Er ließ sich von ihr nehmen. Sie, so kann man aus Erzählungen außerhalb der Odyssee erfahren, gebar ihm einen Sohn, Telegonos. Ihm wurde geweissagt, er würde seinen Vater Odysseus töten. Aber das ist eine ganz andere Geschichte, eine Anverwandlung der Ödipus-Geschichte. Motive aus anderen Sagen wurden ohne Skrupel geklaut und waghalsig in die eigenen Lieblingsgeschichten eingebaut. Ich mag die Telegonos-Geschichte nicht. Eben, weil sie vom Tod des Odysseus erzählt, weil sie den Charakter des Helden verdreht, seine Handlungsmotive banalisiert und damit den unvergleichlichen Mythos dieser Gestalt zerstört.
    Kirke rät Odysseus: »Wenn du nach Hause kommen willst, mußt du erst in die Unterwelt steigen. Du mußt in den Hades gehen und dort den Seher Teiresias treffen, der wird dir helfen.«
    Sie weist ihm den Weg zur Unterwelt. Odysseus gehört zu den wenigen Helden, die wenigstens bis an die Pforten der Unterwelt gelangten. Von einigen anderen haben wir bereits erfahren. Er fand den Eingang zum Hades, schüttete das Blut eines Schafes in eine Rinne und wartete, bis die grauen Seelen, vom Blutdunst angezogen, heraufstiegen.
    Es begegnen ihm dort seine Mutter Antikleia, aber auch die gefallenen Helden vor Troja. Eine der Begegnungen ist bemerkenswert. Von ihr will ich berichten.
    Auch der Schatten des Achill taucht auf. Er sagt: »Odysseus, bist du so wagemutig geworden, daß du dich sogar an die Grenze des Hades traust?«
    Odysseus sieht den großen Achill und sagt: »Was ist aus dir geworden, was ist mit dir?«
    Und Achill sagt: »Glaube mir eines: Hier unten im Ha des, es ist langweilig. Es ist grau, es ist nichts. Niemand respektiert den großen Achill. Der große Achill ist ein Schatten wie jeder andere. Hör zu«, sagt Achill, »wenn ich tauschen könnte, und wenn ich der kleinste Knecht des kleinsten Bauern oben auf dem unfruchtbarsten Land wäre, ich würde sofort tauschen, auch wenn ich hier unten der Herrscher über alle Seelen wäre. Denn das geringste Leben, blutvolle Leben, oben auf der Erde ist um ein Tausendfaches schöner, als hier unten der Größte aller Schatten zu sein. Odysseus, schau zu, daß du lange lebst!«
    Mit diesem Ratschlag verläßt Odysseus die Unterwelt. Wenn er am Ende seiner Irrfahrt bei Kalypso angekommen sein wird, wird ihm Kalypso das ewige Leben versprechen. Er wird dann wissen, was ihn nach dem Tod erwartet, und er wird sich dennoch für den winzigen Hoffnungsschimmer, irgendwann einmal wieder mit Penelope vereint zu sein, entscheiden.
    Wir sehen Odysseus auf seinem Schiff weitersegeln, wir sehen ihn durch die Jahrtausende segeln, bis herauf zu uns. Odysseus ist der Inbegriff des suchenden Menschen geworden: desjenigen, der seine Heimat sucht, seine Liebe, aber vielleicht auch desjenigen, der sucht, ohne zu wissen, was er sucht. Als solcher steht er neben einer anderen Figur, neben Faust.
    Wir sehen Odysseus an der Insel der Sirenen vorüberfahren. Wer die Sirenen hört, verfällt ihnen. Sie singen so schön, wie sonst keine Wesen singen. Wer sie hört, der kann nicht anders, er muß ihre Insel betreten, und dort wird er von ihnen aufgefressen. Der Strand ist bedeckt mit den gebleichten Knochen der Opfer.
    Odysseus, dieser überaus neugierige Mensch, will beides: Er will am Leben bleiben, und er will die Sirenen hören. Wieder denkt er sich etwas aus: Er gibt seinen Leuten Wachs, das sollen sie zerkneten und sich in die Ohren schieben, damit sie nichts hören. Ihn aber sollen sie an den Mastbaum binden.
    »Wenn ich euch bitte, meine Fesseln zu lösen«, sagt er, »dann zurrt sie fester. Je mehr ich euch bitte, desto fester sollt ihr meine Fesseln schnüren.«
    So fährt das Schiff des Odysseus an der Insel der Sirenen vorüber. Die Besatzung ist taub und hört den Gesang nicht, und Odysseus ist an den Mast gebunden. Er schmachtet vor Schmerz und schreit vor Sehnsucht und Gier nach dieser Musik. Er weiß, den größten Genuß kann man nur mit Schmerzen ertragen. So geht auch diese Gefahr an ihm vorüber.
    Er fährt vorbei an Skylla und Charybdis, verliert dort fast seine ganze Mannschaft, und schließlich, als seine Kameraden die Rinder des Helios schlachten, werden sie alle vernichtet. Nur Odysseus bleibt übrig. Der nackte, einsame, alleingelassene Odysseus strandet auf Ogygia, auf der Insel der Kalypso.
    Hier ist das Ende seiner Erzählung, seiner Ich-Erzählung am Hofe der Phäaken. Der Kreis der Geschichte schließt sich.
    Alkinoos, der König der
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