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Sacramentum

Sacramentum

Titel: Sacramentum
Autoren: Simon Toyne
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breiten Rücken des Mannes. Er hielt ein wenig vor und hoffte, so vielleicht auch die junge Frau zu treffen.
    Sein Finger krümmte sich. Er drückte ab. Doch plötzlich erschien der Geist vor ihm – lautlos und unangekündigt wie immer – und fing sich die Kugel ein.
*
    Als Gabriel den Schuss hörte, schaute er über die Schulter und sah, wie sein Vater zu Boden fiel und Hyde mit sich riss.
    Über Jahre hinweg hatte er sich immer wieder vorgestellt, wie er seinen Vater hätte retten können, und nun sah er all diese Szenarien wieder in seinem Kopf. Und jetzt hatte nicht er seinen Vater gerettet, sondern sein Vater ihn.
    Er sah, wie Hyde den leblosen Körper seines Vaters beiseiterollte und erneut zielte. Doch plötzlich galoppierte ein Reiter Hyde über den Haufen, und das Pferd trat das Gewehr beiseite, als er abdrückte, und trampelte Hyde nieder.
    Gabriel wartete nicht darauf, ob Hyde sich wieder erhob oder nicht. Er lief weiter und direkt auf die Tür des nächsten Gebäudes zu. Er musste Liv in Sicherheit bringen.

112
    Das Gebäude war verlassen. Die einzigen Geräusche hier waren das Prasseln des Regens auf dem Dach und das Summen der Klimaanlage.
    Gabriel fand die Krankenstation am Ende eines langen Ganges, und er trat die Tür auf. Sanft legte er Liv auf den Untersuchungstisch und fühlte noch mal an ihrem Hals, ob ihr Puls sich verbessert hatte. Er war regelmäßig, aber schwach. Liv öffnete die Augen, konnte sie jedoch nicht fixieren. Dann formte sie Worte mit dem Mund, die kaum ein Flüstern waren. »Haben wir es geschafft?«
    »Ich glaube schon«, antwortete Gabriel. »Halt einfach durch.«
    Die Worte der Prophezeiung gingen ihm im Kopf herum: … Um dort innerhalb einer vollen Mondphase das Drachenfeuer zu löschen, denn sonst wird der Schlüssel vergehen.
    Gabriel öffnete einen Schrank voller Verbandsmaterial und steriler Handschuhe. Er hatte beim Militär eine Ausbildung für Erste Hilfe im Feld genossen, doch das bedeutete in erster Linie Schmerzstillen und das Vermeiden von Blutverlust, und in dieser Situation konnte er beides nicht gebrauchen. Der nächste Schrank war abgeschlossen. Offensichtlich bewahrten sie hier den guten Stoff auf. Gabriel trat ihn im selben Augenblick auf, als sich hinter ihm die Tür öffnete.
    Gabriel wirbelte kampfbereit herum und sah einen Sanitäter in der Tür.
    »Helfen Sie ihr«, sagte er, packte den Mann am Ellbogen und zerrte ihn zu Liv.
    Der Mann schaltete sofort in den Medizinermodus und prüfte Livs Puls, Temperatur und Reaktion so schnell, wie Gabriel gebraucht hätte, um eine Mullbinde auszupacken.
    »Sie ist dehydriert und scheint unter Schock zu stehen«, erklärte der Sanitäter. »Es ist aber nichts Ernstes. Ich werde sie an den Tropf hängen und ihr ein leichtes Beruhigungsmittel geben.«
    Gabriel nickte. Im Flur waren Schritte zu hören, die rasch näher kamen. Gabriel schnappte sich ein Skalpell und bereitete sich auf den Kampf vor. Sein Vater war noch immer da draußen und verblutete an einer Schusswunde. Er musste wieder zu ihm zurück.
    Die Tür zur Krankenstation öffnete sich, und Gabriel sah, dass es zu spät war: Der Reiter, der Hyde niedergeritten hatte, trug John Mann auf den Armen. Gabriel wurde von Schuldgefühlen übermannt: Er hätte seinen Vater auf den Armen tragen sollen und nicht dieser Fremde.
    Der Reiter legte John Mann auf einen weiteren Untersuchungstisch und trat beiseite, um dem Sanitäter Platz zu geben. Der Sanitäter schnitt das blutdurchtränkte Gewand an der Brust auf, und eine Schusswunde kam zum Vorschein, die bei jedem Atemzug blubberte. Diese Art von Verletzung war Gabriel schon eher vertraut. Das Blubbern hieß, dass die Kugel die Lunge durchschlagen hatte. Nach und nach würde sie sich mit Blut füllen und sein Vater im wahrsten Sinne des Wortes daran ertrinken. Die Farbe wich schon aus Johns Gesicht, und seine Lippen verfärbten sich blau. Der Sanitäter schnappte sich eine Sauerstoffmaske und hielt sie über den nach Luft schnappenden Mund. Gabriel trat vor und übernahm die Maske, damit der Sanitäter die Hände frei hatte, um die Wunde zu säubern und einen Stopfverband anzulegen. Dann beugte er sich über das Gesicht seines Vaters und sah, wie die Augen sich flatternd öffneten und ihr Blick sich auf ihn richtete.
    »Es tut mir leid, mein Sohn«, sagte John Mann. »Eines Tages wirst du es verstehen. Eines Tages wirst du mir hoffentlich verzeihen.«
    Die grauen Augen schlossen sich erneut, und das Keuchen hörte
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