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Ruhe unsanft

Ruhe unsanft

Titel: Ruhe unsanft
Autoren: Agatha Christie
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Schranktür finden. Nein, dafür musste es eine Erklärung geben, die sie nicht kannte und die sie erschreckte. Jeden Augenblick entdeckte sie womöglich noch mehr Dinge, von denen sie gar nichts wissen wollte. Das Haus ängsti g te sie. Aber war es wirklich das Haus, war es nicht sie selbst? Sie wollte nicht zu den Leuten gehören, die das Zweite Gesicht hatten. Gwenda holte tief Atem, zog e i nen leichten Mantel über und schlüpfte aus dem Haus. Auf der Post gab sie folgendes Telegramm (mit bezahlter Rückantwort) auf:
     
    19 ADDWAY SQUARE CHELSEA LONDON MEINUNG GEÄNDERT STOPP MÖCHTE MORGEN KOMMEN STOPP GWENDA

3
     
    R aymond und Joan West taten ihr Möglichstes, damit die junge Frau ihres Vetters Giles sich bei ihnen wohlfühlte. Es war nicht ihre Schuld, dass Gwenda sie insgeheim ziemlich beunruhigend fand. Raymond sah sehr herrisch aus, wie eine angriffslustige Krähe. Seine Haarmähne und seine seltsame Unterha l tung, bei der er mitunter sehr laut wurde, verblüfften sie und machten sie nervös. Er und Joan schienen eine eig e ne Sprache zu sprechen. Gwenda war noch nie bei Inte l lektuellen zu Gast gewesen, und die ganze Art zu reden war ihr fremd.
    »Wir wollen ein paar Mal mit dir ins Theater gehen«, sagte Raymond beim Begrüßungsschluck. Obwohl Gwenda nach der Fahrt lieber eine Tasse Tee als den angebotenen Gin getrunken hätte, heiterte sich ihre Mi e ne bei dieser Aussicht auf. Raymond fuhr fort:
    »Heute Abend haben wir Karten für das ›Sadler’s Wells Ballett‹, und morgen geben wir eine Geburtstagsfeier für meine ziemlich unglaubliche Tante Jane. Ihr zu Ehren sehen wir uns alle den klassischen Thriller Die Herzogin von Amalfi an, mit Gielgud in der Hauptrolle. Und am Freitag musst du unbedingt den Marsch ohne Füße sehen, aus dem Russischen übersetzt und mit Abstand das bedeutendste Stück seit zwanzig Jahren. Es läuft im ›Witmore Thea t re‹.«
    Gwenda bedankte sich, dass man sich so rührend um ihre Unterhaltung kümmere. Wenn Giles kam, dachte sie im Stillen, konnte sie mit ihm noch genug Musicals bes u chen. Sich Marsch ohne Füße ansehen zu müssen, e r schreckte sie ein wenig, aber vielleicht gefiel es ihr sogar. Nur hatte man an »bedeutenden« Stücken meist nicht viel Freude.
    »Tante Jane wird dir gefallen«, sagte Raymond. »Ein herrliches Prachtstück aus einer vergangenen Zeit. Ko n servativ bis ins Herz. Sie wohnt in einem Dorf, wo nie etwas passiert, still wie ein Waldsee.«
    »Einmal ist dort aber doch etwas passiert!«, sagte Joan trocken.
    »Nur ein Eifersuchtsdrama, plump und ohne psychol o gische Feinheiten.«
    »Na, damals warst du fasziniert«, erinnerte Joan und zwinkerte ihm zu.
    »Manchmal spiele ich auch gern Kricket«, gab Raymond würdevoll zurück.
    »Wie dem auch sei, Tante Jane hat sich bei der Aufkl ä rung des Falles mit Ruhm bedeckt.«
    »Ja – sie ist kein Dummkopf. Sie schwärmt für Den k sportaufgaben.«
    »Auch rechnerische?«, fragte Gwenda, weil ihr sofort Dreisatzrechnungen einfielen.
    Raymond winkte ab. »Alles Mögliche. Zum Beispiel: Warum hat die Lebensmittelhändlersfrau an einem klaren Frühlingsabend ihren Regenschirm zum Gemeindetreffen mitgenommen? Wie kamen die Reste einer Dosenkrabbe aufs Fensterbrett? Was geschah mit dem Chorhemd des Vikars? All das ist Wasser auf Tante Janes Mühle. Also, falls du irgendein Problem hast, Gwenda, vertrau es ihr an! Sie wird es unverzüglich lösen.«
    Er lachte, und Gwenda lachte auch, obwohl nicht so unbefangen wie er. Und am nächsten Tag lernte sie Tante Jane, Miss Marple, persönlich kennen. Miss Marple war eine reizende alte Dame, groß und dünn, mit rosigen Wangen, blauen Augen, die oft humorvoll funkelten, und von freundlichem, etwas umständlichem Wesen.
    Nach einem frühen Abendessen, bei dem auf Tante J a nes Gesundheit angestoßen wurde, fuhren sie ins The a ter. Zwei Bekannte, ein älterer Kunstmaler und ein junger Rechtsanwalt, waren mit von der Partie. Der Maler wi d mete sich Gwenda, und der Jurist teilte seine Aufmer k samkeiten zwischen Joan und Miss Marple, deren Beme r kungen ihm offenbar großen Spaß machten. Im Theater wurde die Sitzordnung allerdings geändert. Gwenda saß nun mitten in der Reihe zwischen Raymond und dem Rechtsanwalt. Die Lichter im Zuschauerraum erloschen. Der Vorhang ging hoch. Es wurde großartig gespielt, und Gwenda war begeistert. Sie hatte noch nicht viele gute Aufführungen gesehen.
    Gegen Ende des Stücks kam der schaurige Höhepunkt. Die Stimme
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