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Ruf der Sehnsucht

Ruf der Sehnsucht

Titel: Ruf der Sehnsucht
Autoren: Karen Ranney
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eine warme Sommernacht, und Jeanne war nackt. Sie schämte sich nie in seiner Gegenwart, verbarg sich nie vor seinen Blicken, und er vergolt ihr ihren Mut, indem er ihren Körper vom Scheitel bis zur Sohle mit Küssen bedeckte.
    »Wir werden immer glücklich sein«, hatte er mit einer solchen Überzeugung erklärt, dass es einfach wahr werden musste.
    Sie hatte ihn zum Lohn für seine Zuversicht geküsst, und die Welt um sie her hörte auf zu existieren.
    Sie waren so unschuldig gewesen, so verzaubert voneinander und von ihrer Liebe, so voller Vertrauen in die Welt. Douglas war nur ein Jahr älter als sie. Hatten die letzten zehn Jahre auch ihn verändert? War er noch immer unverbrüchlich zuversichtlich, oder hatte das Leben ihn gelehrt, lieber vorsichtig zu sein als hoffnungsvoll?
    Der Mann, den sie gestern Abend gesehen hatte, war noch attraktiver als der einstige Jüngling. Er strahlte eine Autorität aus, die mancher als einschüchternd empfinden mochte. Sie nicht. Was könnte ein Mensch oder eine Situation ihr antun, was der Comte und Gott ihr nicht bereits angetan hatten?
    Jeanne trat vor ihren Kleiderschrank. In Edinburgh war stets das Neueste vertreten – man musste nur offenen Auges durch die Straßen gehen, um zu erkennen, wie weltoffen die Bewohner waren –, aber von ihr als Gouvernante wurde kein Modebewusstsein erwartet.
    Früher hatte sie die Hilfe von zwei Zofen benötigt, um sich anzukleiden. Seit neun Jahren trug sie nur noch schlichte Kleider, ohne viel Garnierung, und hatte sich im Lauf der Zeit daran gewöhnt. Das verwöhnte Mädchen, das seinen Vater mit Schmeicheleien zu zahllosen Einkäufen bei Putzmacherinnen und Schneidern genötigt hatte, gab es nicht mehr. Für den heutigen Tag wählte sie aus ihrer schmalen Garderobe das dunkelgrüne Kleid, dessen viereckiger Ausschnitt mit einer einfachen Spitzenrüsche umrandet war.
    Dann steckte sie ihr Haar im Nacken auf, schmückte es mit einer langen Elfenbeinhaarnadel. Früher hatte Jeanne ihre schwarzen Locken ungebändigt auf die Schultern herabfallen lassen, nur hochgetürmt und weiß gepudert, wenn sie mit ihrem Vater bei Hofe erscheinen musste. Gleich nach ihrer Ankunft im Kloster hatte man ihr das Haar dicht an der Kopfhaut abgeschnitten – um ihr, wie man ihr mitteilte, keinen Grund zur Eitelkeit zu lassen. In den letzten beiden Jahren hatte man ihrem Haar zu wachsen gestattet – vielleicht, um es wieder abzuschneiden, falls sie gegen eine Regel verstoßen sollte.
    Als Jeanne sich im Spiegel musterte, erkannte sie die Spuren der unruhigen Nacht. Ihre grauen Augen – Nebelaugen, wie Douglas sie einmal geneckt hatte – wirkten, als hätten sie einen Geist gesehen, ihr Gesicht war blass und hohlwangig.
    Sie begutachtete sich mit dem kritischen Blick von Schwester Marie-Thérèse und kam zu dem Schluss, dass diese nichts auszusetzen finden würde. Die Spitzenrüsche um die Halbärmel war dezent, nicht opulent. Die schmalen Enden des passenden Fichus waren in den Ausschnitt gesteckt, das Mieder war ohne Garnierung.
    Deine äußere Erscheinung muss deine fromme Gesinnung spiegeln.
Die Stimme gehörte Marie-Thérèse, deren Pflicht es gewesen war, Jeanne alle wollüstigen Gedanken auszutreiben und ihren Charakter umzubilden.
    Sie besaß ein Paar goldene Ohrringe, die einem kleinen Mädchen jenseits des Kanals gehört hatten, das sie gepflegt hatte. Als sie sie anlegte, überschwemmten sie erneut Erinnerungen.
    Douglas küsste sie, knurrte dabei im Scherz bedrohlich. Kichernd stemmte sie sich hoch, ließ ihre Locken über sein Gesicht fallen.
    »Was machst du?«, fragte sie und kitzelte ihn mit dem Ende einer Haarsträhne.
    »An dir knabbern, natürlich.«
    »Es ist Nahrhafteres in dem Korb.« Sie deutete auf das Mittagessen, das sie mitgebracht hatte. Heute hatten sie sich in einem zum Fluss hin abfallenden Winkel des Gartens getroffen, wo dicht stehende, altehrwürdige Trauerweiden sie gegen neugierige Blicke abschirmten.
    »Ich brauche nur dich, Jeanne«, erwiderte Douglas ernst.
    Dieser Augenblick war kostbar für sie, eine der Erinnerungen, bei denen ihr die Augen feucht wurden. Sein Blick hatte Liebe ausgedrückt, Beständigkeit und ein Versprechen.
    Vergib mir, mein Liebster.
    Zum ersten Mal seit langem wünschte Jeanne, sie hätte einen Altar in ihrem Zimmer. Dann hätte sie sich hingekniet und um Vergebung für ihre große Sünde gebetet. Nicht dafür, dass sie Douglas liebte oder ein Kind von ihm empfangen hatte, sondern für
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