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Ruf der Sehnsucht

Ruf der Sehnsucht

Titel: Ruf der Sehnsucht
Autoren: Karen Ranney
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den Stallungen hinauf. Gottlob war Stephens noch nicht zu Bett gegangen.
    »Verzeiht mir die späte Störung«, sagte Douglas.
    »Keine Ursache, Sir.« Der Kutscher lächelte.
    »Ich habe einen Auftrag für einen der Stallburschen«, erklärte Douglas ihm. »Er soll dies hier Kapitän Manning überbringen.« Er reichte ihm ein an den Genannten adressiertes Kuvert.
    »Ich sorge dafür, dass es umgehend erledigt wird, Sir.«
    Auf dem Rückweg zum Haus wurde Douglas klar, dass sein Plan sich als unklug erweisen könnte. Er hatte Jeanne du Marchand vor Jahren aus seinem Leben gestrichen. Eigentlich sollte er einfach so tun, als hätte die Begegnung mit ihr vorhin gar nicht stattgefunden.
    Aber ob klug oder unklug – er würde die Gelegenheit nutzen, eine Tat von unaussprechlicher Grausamkeit zu rächen.

Kapitel 4
    J eanne stöhnte leise, als sie im Traum Vallans vor sich sah. Nicht das majestätische, sonnenbeschienene Château in dem weiten Tal, sondern die Überreste von Vallans, Schornsteine, die in die Höhe ragten wie rußgeschwärzte Backsteinriesen. Durch Löcher im Boden waren die unzerstörten Verliese und geheimen Gänge des Schlosses zu sehen.
    Die jahrhundertealten Wandbehänge, die Ahnengalerie der du Marchands, die Bücher aus der großen Bibliothek, die Glasmalerei, welche die Stationen des Kreuzweges Christi darstellte, die Kapelle mit dem goldenen Altaraufsatz – alles ein Raub der Flammen.
    Die Szene wechselte jäh, als wollte der Traum Jeanne das Bild der Zerstörung nicht länger zumuten. Plötzlich erhellte Vallans mit Hunderten von Kerzen und Laternen die Nacht. Douglas und Jeanne tanzten im Ballsaal, ohne die Pracht um sie her wahrzunehmen, gänzlich ineinander versunken.
    Langsam tauchte Jeanne aus den Tiefen ihres Traums empor. Flatternd öffneten sich ihre Lider. Zuerst verschwommen, dann zunehmend klar nahm sie das Bild wahr: Jenseits des offenen Fensters hing wie ein aus gelbem, rosarotem und goldenem Garn gewebter Wandteppich der Morgenhimmel über Edinburgh. Ein neuer Tag. Ein neuer Anfang.
    Als sie zum Fenster ging, fühlte sie sich wie zerschlagen nach der unruhigen Nacht, schaute hinaus, sah das Bild, das sich ihr seit drei Monaten jeden Morgen nach dem Aufstehen bot: ein rechteckiger Platz mit vier davon ausgehenden Wohnstraßen. Zu dieser frühen Stunde war noch kein Verkehr, transportierten noch keine Fuhrwerke Gebrauchsgüter und Viktualien zu den Häusern der Reichen, waren noch keine Wanderhändler oder Straßenverkäufer unterwegs. Bald jedoch würde sich selbst in diesem Wohnviertel der wohlhabenden Gesellschaft Leben regen.
    Jeanne atmete tief die Morgenluft ein. Auf dem Platz wiegten sich große scharlachrote und gelbe Blütenköpfe in dem sanften Wind von den Hügeln.
    Direkt unter ihr landete ein Vogel auf dem Sims. Jeanne lächelte. In den neun Jahren ihrer Gefangenschaft im Kloster hatte sie gelernt, sich an den kleinen Dingen des Lebens zu erfreuen – dem Gesang eines Vogels, der Farbenpracht eines Regenbogens, einem Baum, einer knospenden Blume, der schlichten Majestät eines Morgenhimmels.
    Um ihr ihre Verderbtheit auch räumlich vor Augen zu halten, war sie weitab der Nonnen in einer winzigen Zelle mit nur einem Fenster untergebracht worden, wo sie über ihre Sünden nachdenken sollte. Allerdings war ihr auch in der Zeit, die sie mit den anderen verbringen durfte, jedwede Kommunikation untersagt gewesen.
    Aber anstatt, wie erwartet, mürbe zu werden, gewann Jeanne an innerer Stärke. Sie hatte begriffen, dass die Schwestern von Sacré-Cœur sich irrten: Sie hatte gar keine unverzeihliche Sünde begangen. Und in einem Winkel ihres Herzens bewahrte sie sich allen Widrigkeiten zum Trotz ein Fünkchen Hoffnung.
     
    Der Vogel flatterte davon. Ihr Blick folgte ihm, glitt über die Dächer. Edinburgh war eine wohlhabende Stadt, in der ständig irgendetwas gebaut wurde. Ganze Stadtteile befanden sich im Wandel.
    So wie sie sich gewandelt hatte.
    Jeanne kehrte dem Fenster den Rücken. Bald würde ihr Schützling ihre Aufmerksamkeit fordern, begierig, ihr seine Träume aus der vergangenen Nacht zu erzählen, und neugierig auf den bevorstehenden Unterricht. Bis zu jenem Morgen vor fast zehn Jahren hatte auch sie jeden neuen Tag mit Enthusiasmus erwartet.
    Eine andere Erinnerung meldete sich zu Wort.
    »Bist du glücklich?« Es war Douglas, der ihr diese Frage stellte, und seine Stimme bohrte sich wie ein Messer in ihr Herz.
    »Unvorstellbar«, hatte sie geantwortet. Es war
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