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Ruf der Sehnsucht

Ruf der Sehnsucht

Titel: Ruf der Sehnsucht
Autoren: Karen Ranney
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wollte sich nicht an den Nachmittag im Wintergarten erinnern, als ihr Lachen den Regentag zu einem sonnigen machte. Und auch nicht an den Morgen, als sie, das Haar auf dem Gras ausgebreitet, auf einem Hügel lag. Er hatte sich mit einer Narzisse in der Hand über sie gebeugt und sie mit der Blüte am Kinn gekitzelt. Und Jeanne hatte ihm für jede Liebkosung mit den Blütenblättern einen Kuss gewährt.
    Diese Erinnerungen betrafen eine andere Frau, einen anderen Ort. Er war nicht mehr derselbe Mensch wie seinerzeit in Paris. Und Jeanne? Wie hatte er sie so sehr lieben und sich so sehr in ihr täuschen können?
    Die Nebelnässe machte ihm das Atmen schwer.
    Die Idee, Jeanne zur Rede zu stellen, war töricht. Außerdem war sie vielleicht gar nicht allein. Gut möglich, dass sie Hartleys Wunsch, seine Mätresse zu werden, bereits entsprochen hatte. Als Überlebenskünstlerin, und die war sie offenbar, war sie opportunistisch.
    Sein Haar war feucht, sein Rock mit Tausenden kleinster Wassertröpfchen gesprenkelt. Dennoch verharrte er und starrte nach oben. In Paris hatte er dasselbe getan. Hatte bis zum Morgen vor dem Palais des Comte du Marchand gestanden und auf Jeanne gewartet. Sobald sie ihm das Zeichen gäbe, würde er sie am kleinen, schmiedeeisernen Tor erwarten.
    Unwillig schüttelte er den Kopf, drehte sich um und setzte sich in Bewegung.
    Die Stimmung der Stadt entsprach seiner. Die Straßen waren dunkel und still. Nur hier und da erhellte für einen Augenblick eine Laterne seinen Weg. Manchmal, wenn Wolken den Himmel verdunkelten, wirkte Edinburgh wie ein grübelndes lebendiges Wesen. Vor allem aber war es ein geschichtsträchtiges Wesen.
    Was hatten all die Hügel und Kopfsteinpflastergassen nicht schon erlebt im Lauf der Zeit. Ränke und Pläne waren geschmiedet, Könige beseitigt und in der Folge Vermögen verloren oder gewonnen worden.
    Die Stille übertrug Geräusche so weit, dass Douglas sich einbildete, das Ziehen eines Messers aus der Scheide zu hören, das Flüstern Hunderter heimlicher Liebespaare, tausend Versprechungen. Gerüchten nach gab es eine Stadt unterhalb der Stadt, ganze Straßenzüge, wo Menschen in Dunkelheit, aber relativer Sicherheit lebten. Die Armen von Edinburgh wurden in regelmäßigen Abständen zusammengetrieben und in einen anderen Teil der Stadt verbracht, und einige von ihnen, so hieß es, suchten dort unten Zuflucht, ohne Sonnenlicht, aber auch ohne Steuerpflicht.
    In weniger als fünfzehn Minuten hatte er sein rotes Backsteinhaus mit der weißen Tür und den schwarzen Fensterläden am Queen’s Place erreicht. Im Erdgeschoss und zweiten Geschoss reihten sich hochrechteckige Fenster aneinander, von denen zwei beleuchtet waren. Die im dritten waren bogenförmig und erinnerten an geschlossene Augenlider. Über das Dach ragten acht Schornsteine hinaus, aus deren einem eine dünne, weiße Rauchfahne emporstieg.
    Mit Genugtuung registrierte Douglas, dass sein Haus größer war als Hartleys.
    Und sein Firmenimperium »MacRae Brothers« florierte. Machte ihn das glücklich? Diese Frage hatte Alisdair ihm vor ein paar Wochen gestellt. Douglas hatte, ohne zu überlegen, genickt – sich mit dem Zustand seiner Seele zu befassen behagte ihm nicht. Es gab zu viele dunkle Winkel darin.
    Als er die Stufen zum Eingang erklomm, öffnete sich die Haustür, und der betagte Majordomus in seinem strengen Schwarz begrüßte ihn mit einem Lächeln und trat beiseite, um ihn einzulassen.
    »Guten Abend, Sir.«
    »Ich hatte Euch doch gesagt, Ihr müsstet meinetwegen nicht aufbleiben.«
    Lassiter lächelte nur und schloss die Tür hinter Douglas. Der Mayordomus bewegte sich geschmeidig wie ein junger Mann.
    »Die Luft ist schrecklich heute Nacht, Sir«, bemerkte er. »Ich komme mir fast vor wie zu Hause in London.«
    »Dafür sind die Leute hier leichter zu verstehen als in den Highlands«, gab Douglas zu bedenken. Er sprach Französisch und Deutsch und ein paar Brocken Chinesisch, aber der schottische Dialekt stellte ihn gelegentlich vor unlösbare Probleme. Im Gegensatz zu seinen Brüdern hatte er nie Gälisch gelernt, und es gab Momente, in denen ihm das unangenehm auffiel.
    »Habt Ihr einen angenehmen Abend verbracht, Sir?«
    »Zumindest einen interessanten, Lassiter. Die Vergangenheit suchte mich heim. Und wie erging es Euch?« Er rechnete nicht wirklich damit, eine Antwort zu erhalten, denn sein Majordomus verweigerte strikt jede Aufweichung des Standesunterschieds zwischen ihnen. Doch heute
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