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Ruf der Sehnsucht

Ruf der Sehnsucht

Titel: Ruf der Sehnsucht
Autoren: Karen Ranney
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plötzlicher Windstoß von Norden den Duft von Wald und Blumen mit, ließ Orte fernab der Zivilisation erahnen.
    Jeanne nahm ihre Brille ab und schloss die Augen. Auch wenn Douglas kein Wort zu ihr gesagt hatte, auch wenn er sie wie eine Fremde behandelt hatte – sie würde nicht weinen.
    Eine Träne lief über ihre Wange. Jeanne lachte, aber es lag keine Heiterkeit darin. Also gut, vielleicht weinte sie um das junge Mädchen, das so verliebt gewesen war, dass es den Anordnungen des Vaters widersprach.
    Sie setzte die Brille wieder auf, öffnete die Augen und betrachtete ihr Spiegelbild in der nachtdunklen Fensterscheibe. Vielleicht hatte Douglas sie überhaupt nicht erkannt! Sie war nicht mehr das junge Ding von damals. Allerdings waren ihre sichtbaren Veränderungen nicht gravierend. Sie hatte immer noch diese merkwürdig grauen Augen, und ihr Haar war noch immer schwarz braun. Ihr Gesicht war schmaler geworden und die Backenknochen traten stärker hervor, aber das war eher den Entbehrungen der letzten Monate geschuldet als der vergangenen Zeit.
    Aus dem wirklichkeitsfremden jungen Mädchen war eine Frau geworden, die dem Leben die Stirn bot – aber das sah man ihr nicht an. Ihre Finger spielten mit dem rechteckigen, goldenen Medaillon an ihrer Halskette. Es war nicht besonders schön, aber es hatte ihrer Mutter gehört und war ihr aus diesem Grund lieb und teuer. Außerdem gehörte es zu dem Wenigen, was ihr aus ihrer Vergangenheit geblieben war.
    Douglas machte einen wohlhabenden Eindruck. In ihrer Erinnerung war er ein fröhlicher und unbeschwerter junger Mann gewesen, dieser Fremde jedoch wirkte ernst und achtunggebietend.
    Jeanne drehte sich um und schob wie jeden Abend die Kommode vor die Tür. Vor einem Monat hatte ihr Dienstherr zum ersten Mal angeklopft und flüsternd um Einlass gebeten. Vor einer Woche hatte er versucht, sich Zutritt zu verschaffen, und gemerkt, dass die Tür verstellt war. Bis heute hatte er auf Gewaltanwendung verzichtet, wahrscheinlich, weil er kein Aufsehen erregen wollte.
    Ihr Dienstherr beobachtete sie wie ein Raubvogel auf der Jagd. Manchmal, wenn sie nach oben kam, stand er auf dem Treppenabsatz und weigerte sich beiseitezutreten. Wenn sie dann an ihm vorbeiging, spürte sie seine Hand über ihr Kleid gleiten, doch da sie Davis bei sich hatte, sah sie von einer Bemerkung ab. Es geschah nicht selten, dass er sie bereits erwartete, wenn sie das Schulzimmer betrat, und erst ging, nachdem er seinen Sohn nach seinem neu erworbenen Wissen ausgefragt und sie mit übertriebenen Komplimenten überhäuft hatte, wenn sein Sohn seine täglichen Lektionen auswendig hersagen konnte.
    Sie würde sich etwas einfallen lassen müssen, und zwar bald. Ihre nächtlichen Vorsichtsmaßnahmen würden Robert Hartley nicht ewig fernhalten.
    Wenn sie eine andere Möglichkeit gehabt hätte, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, hätte sie sich nie für den Beruf der Gouvernante entschieden – aber abgesehen von ihrer guten Erziehung hatte sie nur wenig vorzuweisen. Die Leute hier kümmerte es nicht, dass sie die Tochter eines französischen Grafen war, dass ihr Vater so reich gewesen war, dass er dem König Geld geliehen hatte, dass Vallans sich dreihundert Zimmer und ungezählter Kunstwerke hatte rühmen können.
    Und es würde auch niemanden kümmern, dass sie neun Jahre Gefangenschaft in einem Kloster hinter sich und Frankreich mit so gut wie nichts verlassen hatte, außer dem, was sie am Leibe trug.
    Es hatte Robert Hartley nicht gekümmert, dass sie bettelarm war, als sie bei ihm vorstellig wurde, dass es drei Tage her war, dass sie eine ordentliche Mahlzeit in den Magen bekommen hatte. Die beiden Fragen, die er ihr vor ihrer Einstellung stellte, waren einfach und leicht zu beantworten: Hatte sie Referenzen, und war sie bereit, für eine bestimmte Summe zu arbeiten? Die erste Frage musste sie zu ihrem Bedauern verneinen – die Jahre bei den Nonnen wären keine Empfehlung. Jeanne hatte sich nach Schottland durchgeschlagen, wo sie bei ihrer Tante bleiben wollte. Wie sich erwies, war diese jedoch ein Jahr zuvor gestorben, und der angeheiratete Onkel hatte kein Interesse daran, sein Heim einer Halb-Französin zu öffnen. Was die zweite Frage anging, so würde Jeanne sich mit jedem Lohn zufriedengeben.
    Die vergangenen Jahre hatten sie etwas Grundsätzliches gelehrt: Ein Dach über dem Kopf zu haben und nicht frieren und nicht hungern zu müssen – nur darauf kam es an. Alles andere war
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