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Ruf der Sehnsucht

Ruf der Sehnsucht

Titel: Ruf der Sehnsucht
Autoren: Karen Ranney
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Jungen in der ihren.
    Bitte lieber Gott,
betete sie, obwohl sie in ihren Jahren im Kloster keinen Beweis seiner Barmherzigkeit erfahren hatte,
lass ihn einen Geist sein.
Aber es war nur zu offensichtlich, dass der Douglas, der da keine fünf Meter von ihr entfernt saß, aus Fleisch und Blut war.
    Doch immerhin half Gott ihr, dass ihre Knie nicht nachgaben, und verlieh ihr die Kraft, die Eingangshalle zu durchqueren und die Treppe hinaufzugehen.
    »Ihr seid bleich, Miss«, stellte Davis fest, als sie auf der obersten Stufe anhielt und ihre Übelkeit zu meistern versuchte. Er machte sich immer Gedanken, legte sein kleines, schmales Gesicht häufig in Sorgenfalten.
    »Es geht mir gut, Davis.« Sie wünschte, ihr Herz würde sein Stakkato verlangsamen und ihr das Atmen erleichtern.
    »Das glaube ich Euch nicht, Miss.«
    »Aber es ist so.« Warum sollte es ihr auch nicht gutgehen? Es war ihr schließlich nur ein lebendiger Geist erschienen.
    Entschlossenen Schrittes machte sie sich auf den Weg von der schmalen Hintertreppe zum Kinderzimmer.
    »Seid Ihr sicher, dass Ihr nicht krank werdet?«
    Jeanne suchte nach Worten, die den Jungen davon abhalten würden, ihr weitere Fragen zu stellen, die sie ihm nicht beantworten konnte. Selbst wenn sie es gewollt hätte – sie war vollauf damit beschäftigt zu atmen, einen Fuß vor den anderen zu setzen und in der Gegenwart zu bleiben, während die Vergangenheit ihre Tentakeln um sie schlang, die Erinnerungen übermächtig zu werden drohten. An die Berührung seiner Hand. An seinen Atem an ihrem Hals. An seinen nackten Körper auf dem ihren. Verbotene Erinnerungen, die das Kloster jahrelang auszulöschen getrachtet hatte. Weder die Schläge noch die Stunden, die sie mit dem Gesicht nach unten auf dem Steinboden der Kapelle liegen musste, noch das eiskalte Wasser, mit dem sie morgens eimerweise übergossen und anschließend in der Kälte stehen gelassen wurde, hatten es vermocht.
    Doch in diesem Moment wünschte sie, es wäre gelungen. Eine Erinnerung konnte schmerzen. Diese Erkenntnis überraschte sie. Im Kloster hatten die Erinnerungen an Douglas sie nachts warm gehalten und ihre Seele zusammen, so sehr die Schwestern sich auch bemühten, sie in Stücke zu hauen.
    Endlich hatten sie das Kinderzimmer erreicht. Als sie die Tür öffnete und die Hand des Kleinen losließ, wandte er sich ihr zu und sah sie mit seinen erwachsenen Augen an.
    »Ihr werdet
doch
krank, nicht wahr? Es war der Fisch, den es zum Abendessen gab. Mama wird jedes Mal krank, wenn es Fisch gegeben hat. Darum bereitet der Koch für sie keinen mehr zu. Ich habe Euch gesagt, dass ich auch krank werde, wenn Ihr mich zwingt, davon zu essen.«
    »Du wirst nicht krank, Davis«, erwiderte Jeanne ruhig, »und ich werden ebenfalls nicht krank. Ich bin nur ein wenig müde.«
    »Wir haben Mama nicht gute Nacht gesagt«, fiel ihm ein. An einem anderen Abend hätte Jeanne den Jungen wegen seines weinerlichen Tons ermahnt, aber heute wollte sie Davis nur möglichst schnell zu Bett bringen und sich in ihr Zimmer zurückziehen.
    »Deine Mutter schläft, und ich wollte sie nicht wecken.« Gott würde ihr diese Notlüge hoffentlich verzeihen.
    Der Kleine schaute sie an, als glaube er ihr nicht, aber sie überging es.
    Sie half ihm, sich bettfertig zu machen, und lauschte seinem Nachtgebet dann zwar mit pflichtschuldigst geneigtem Kopf und gefalteten Händen, aber nur mit halbem Ohr, denn sie war in Gedanken nicht bei Gott, sondern bei Douglas.
    Nachdem sie ihren Schützling zugedeckt hatte, strich sie ihm wie jeden Abend über die Stirn, und wie jeden Abend wich der Junge der Berührung aus. Er hielt nichts von sichtbaren Zuneigungsbezeugungen.
    Zu guter Letzt löschte sie die Flamme der Kerze neben dem Bett. »Gute Nacht, Davis.« Jeanne stand auf und ging zur Tür.
    »Gute Nacht, Miss.«
    Nach einem letzten Blick zu ihm, trat sie auf den Flur hinaus, schloss die Tür und machte sich auf den Weg zu ihrem Zimmer, einem winzigen Raum, in dem es nur ein schmales Bett, einen Kleiderschrank und eine Kommode gab. Die verwöhnte Tochter aus reichem, aristokratischem Hause von einst hätte sich über das enge Quartier und das schäbige Mobiliar entsetzt, doch die junge Frau von heute betrachtete beides nach neun Jahren Kloster als ihren Bedürfnissen entsprechend.
    Sie öffnete das Fenster. Die Luft war warm und feucht. Manche sagten, sie sei giftig, und an diesem Abend ließ der Geruch Jeanne beinahe daran glauben. Aber dann brachte ein
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