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Rudernde Hunde

Rudernde Hunde

Titel: Rudernde Hunde
Autoren: Elke Heidenreich
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sogar ihrer Hand aus, wenn sie sie streicheln wollte. Nureeni suchte die alten Plätze und fand viele davon nicht mehr. Das Cafe, das sie so geliebt hatte, war einer Jeansboutique gewichen. Das ehemalige Jugendstilrestaurant am Union Square beherbergte jetzt eine Bank, der Squirrel-Man im Battery Park, der gegen ein paar Cents Futter für die grauen Eichhörnchen verkaufte, war nicht mehr da, und aus dem See im Central Park hatte man das Wasser abgelassen. Die grünen alten Leselampen im großen Lesesaal der Nationalbibliothek in der 42. Straße waren Neonröhren gewichen, und auf den langen Holztischen standen Computer, vor denen junge Leute mit dicken Turnschuhen an den Füßen saßen. Nureeni spürte zum erstenmal, daß sie alt wurde und daß sich alles veränderte. Und sie empfand diese Veränderungen als durchaus schmerzlich: sie hatte, als die Dinge noch schön waren, nicht bemerkt, wie schön sie waren, und nun wurde alles banal und häßlich. Sie weinte, wenn in ihrer Umgebung Bäume abgeschlagen wurden, die sie lange gekannt hatte, sie litt unter dem Verlust von Freunden, es tat ihr weh, kleine alteingesessene Geschäfte beim nächsten Besuch der Stadt nicht mehr wiederzufinden, weil die Besitzer gestorben oder von mehr Miete zahlenden Geschäftsleuten vertrieben worden waren. Die einzigen Konstanten, so schien es ihr auf einmal, waren die Halle des Hotels Algonquin, auch wenn die Polsterbezüge wechselten, und Matilda, und erst als Nureeni schon weit über fünfzig Jahre alt war, wurde ihr von einer Sekunde auf die andere plötzlich bewußt: das konnte ja gar nicht mehr die Matilda von früher sein. Mit acht Jahren hatte sie die Hotelkatze zum erstenmal gesehen, und da gab es bereits in Romanen und Erzählungen der Dichter, die regelmäßig im Algonquin abstiegen, Geschichten über sie. Also konnte sie schon damals nicht mehr so jung gewesen sein. Jetzt wäre sie längst über fünfzig Jahre alt, und das wäre dann doch ein zu langes Leben für eine Katze. Vorsichtig erkundigte sich Nureeni an der Rezeption nach Matilda. Eine junge Frau, elegant, modern, ganz anders als die liebenswerte, umständliche ältere Dame von früher, saß am Computer und gab gern Auskunft.
    »Ach«, sagte sie, »wir nennen sie immer alle Matilda. Die älteste wurde, glaube ich, elf. Meistens laufen sie irgendwann hinter einem Gast her hinaus, werden überfahren oder finden nicht zurück. Wir besorgen dann sofort eine neue, die so ähnlich aussieht. Die Stammgäste bestehen darauf, Matilda hier anzutreffen.« Sie zeigte auf die gegenwärtige, tiefgraue Matilda, lachte und sagte: »Das da ist ein Kater, heißt aber trotzdem Matilda. Die Tradition, wissen Sie.«
    Nureeni wußte nicht, ob dies nun ein besonders schmerzlicher Fall von Betrug oder eine besonders komische Geschichte war.
    Sie ging verwirrt auf ihr kleines Zimmer. Im Algonquin war nur die Halle groß, die Zimmer erlaubten kaum Luxus. Nureeni legte sich aufs Bett und dachte lange nach über alles, was sich um sie herum immerfort veränderte. Sie wollte Konstanten, sie wollte etwas, das blieb, etwas, an dem man sich orientieren konnte. Wohnungen und Häuser wechselten, Möbel wurden ausgetauscht. Menschen verschwanden, Städte veränderten täglich ihr Gesicht, ein großes weißes Schiff fuhr durchs Leben und entsorgte alles, Nureeni, das Müllschiff, das alles mitnimmt, irgendwohin, ecce vita, sieh an, das Leben, dachte sie und schlief ein.
    Als sie erwachte, beschloß sie, nie wieder über Matilda nachzudenken und dankbar dafür zu sein, daß es diese eine feste Größe in ihrem Leben gab. Alles verschwand, Matilda blieb, alles änderte sich, Matilda war unwandelbar am selben Ort, mit demselben Namen, eine Katze, die ewige Katze, der ruhige Pol in der Erscheinungen Flucht. Wenn das alles auch auf einer Lüge beruhte, so ließ sich mit der Lüge einer Tradition besser leben als mit dem gänzlichen Verschwinden aller Traditionen. Dorothy Parker, da war Nureeni sich sicher, hätte das auch so gesehen.
    Nureeni ging in die Halle, bestellte sich einen Gin Tonic und klopfte leicht neben sich auf die gepolsterte Bank.
    »Komm, Matilda«, flüsterte sie, und der graue Kater namens Matilda sprang neben sie, rollte sich zusammen, schnurrte, und Nureeni streichelte das graue Tier und flüsterte ihm ins Ohr: »Es tut so gut, jemanden zu haben, der mich schon kannte, als ich erst acht Jahre alt war.«

Rudernde Hunde
    I CH WAR EIN SCHLECHTER, um nicht zu sagen miserabler Schüler.Ich
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