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Rudernde Hunde

Rudernde Hunde

Titel: Rudernde Hunde
Autoren: Elke Heidenreich
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hätte nicht der Krieg seine Träume zerstört. Er warf mit medizinischen Begriffen um sich, die er als Sanitäter im Krieg gelernt hatte, und er brachte Krankheiten zur Sprache, die er durchgemacht habe, von denen wir nie etwas gewußt hatten.
    »Eigentlich, Herr Doktor«, sagte er, »dürfte ich schon gar nicht mehr am Leben sein.«
    Ich glaube, das dachte meine Mutter in dem Moment auch. Und auch der Chefarzt, ein eher zurückhaltender, freundlicher Mann, zeigte kaum Rührung. Da unsere Mutter in der Frau des Chefarztes unverhofft eine Gesprächspartnerin fand, mit der sie über die gemeinsame Berliner Herkunft sprechen konnte, wurde dieser Nachmittag sehr lang. Und er endete mit einer großen Peinlichkeit.
    Als meine Mutter merkte, daß mein Vater immer betrunkener wurde und dem Doktor schon jovial auf die Schulter klopfte, drängte sie ganz entschieden zum Aufbruch, mit der Ankündigung, jetzt unverzüglich mit den Kindern zu gehen, notfalls auch ohne ihn. Endlich kam es zum Zahlen. Vater schäkerte noch mit Burgel, was auch der Frau des Doktors merklich mißfiel, dann wollte er zahlen, doch sein Geld reichte nicht. Es fehlte eine Summe, deren Höhe ich heute nicht mehr weiß, es war jedenfalls mehr als mein monatliches Taschengeld. Wir schämten uns in den Boden.
    Burgels freigebige Üppigkeit schlug in entschiedene Ungeduld um.
    Vater suchte Ausflüchte, wollte nächste Woche mit dem Geld wiederkommen. Der Chefarzt reichte dem Vater einen Geldschein.
    Vater zahlte und versicherte mehrmals, daß sein Sohn - ich in dem Fall -diesen Schein natürlich sofort am Montag an den Herrn Sohn des Herrn Doktors aushändige, das sei doch Ehrensache, in solchen Dingen sei er sehr genau.
    »Auf Heller und Pfennig«, schrie er, »wird diese Schuld beglichen, Herr Doktor! Herr Doktor, Sie sind ein feiner Mann!«
    Er verbeugte sich, gab dem Doktor die Hand, der Gattin einen wackeligen Handkuß, und ging. Wir hinterher. Er hatte es wie immer eilig. Trotz seiner Trunkenheit schritt er gerade und flott voran. Mutter schimpfte vor sich hin, doch er hörte es nicht.
    Schämen müsse man sich, jawohl, schämen.
    Im Zug wiederholte sie das, doch da schlief der Vater bereits.
    Mutter schwieg, Vater schnarchte, und wir konnten uns mit Mühe wach halten, waren müde vom Nichtstun. Und vor uns lag noch die Wanderung vom Bahnhof nach Hause.
    Mir war, als Vater sich das Geld lieh, das arrogante, überlegene Grinsen des Arztsohnes nicht entgangen. Am Montag, ehe ich zur Schule fuhr, mahnte ich den Geldschein an.
    Vater hatte das Haus schon verlassen, Mutter hatte nur Kleingeld da und vertröstete auf den nächsten Tag. Ich fuhr in die Stadt, aber ich schwänzte die Schule. Am Dienstag hatte ich den Schein dabei. Der Chefarztsohn empfing mich mit der Bemerkung: »Dein Vater ist ja ein lustiger Vogel!«
    Ich hätte ihn erwürgen wollen, über ihn herfallen, aber er war stärker als ich. Ich reichte ihm den Schein. Achtlos steckte er ihn ein. Mir war sofort klar, daß er ihn seinem Vater nicht geben würde. Diese Vorstellung verfolgte mich lange.
    Wenn wir, wie an jenem Tag, mit dem späten Zug fuhren, schlief mein Vater immer. Ein jämmerlicher Anblick. Wir mußten ihn wecken, wenn wir ankamen. Dann schreckte er hoch, stierte vor sich hin, stand auf, stieg aus und rannte sofort voraus. Wieder folgten wir ihm wie die wandernden Orgelpfeifen.
    Marschieren konnte Vater immer. Das schien ihn nüchtern und für neue Abenteuer bereit zu machen. Kaum hatten wir den Dorfrand erreicht, ging er mit seinen langen Schritten voraus und war schon im Gewühl der trinkenden und schwatzenden Männer im Biergarten unserer Dorfwirtschaft untergetaucht, als wir dort vorbeikamen. Zu Hause angekommen, aßen wir meistens noch von der völlig verstummten Mutter geschmierte Brote und schlichen uns dann freiwillig in die Betten.
    Mutter saß dann im dunklen Wohnzimmer, starrte in den Garten hinaus und weinte. Zwanzig Jahre nach dem Tod meines Vaters sagte mir meine alte Mutter einmal, daß sie seit seinem Tod nicht mehr geweint habe. Ich weiß, daß sie auch nicht geweint hat, als er starb. Stumm stand sie am Grab, und in ihrem Gesicht glaubte ich den Entschluß sehen zu können: jetzt noch mal leben, neu, anders, ganz anders. Sie hat es getan.
    Damals aber, als wir Kinder waren, mußte Mutter am Ende immer weinen, wenn Vater seine von uns allen gefürchtete gute Laune bekam.

Matilda
    A ls kleines Mädchen von acht Jahren war Nureeni Fox zum erstenmal mit ihren Eltern
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