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Ruby und Niall

Ruby und Niall

Titel: Ruby und Niall
Autoren: Pia Recht
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gewesen war. Und nun sehe man sich einmal an, was aus Helen geworden war. Sie hatte es zu etwas gebracht in Boston. Und wo Ruby gelandet war, dieses dumme einfältige Ding.
Ihre Eltern hatten keinen blassen Schimmer, was Helen in Boston wirklich tat, ebenso wenig, wie sie etwas von Rubys Leben in Winslow wussten. Sie hatte nicht das Bestreben, es richtigzustellen. In Winslow war sie aus dem Überlandbus gestiegen, wie so viele, aber sie war eine der wenigen gewesen, die geblieben waren. Beim Aussteigen hätte sie sich fast der Länge nach hingelegt, weil sie die letzte Stufe übersehen hatte wegen der dunklen Sonnenbrille. Der Fahrer hatte ihr hinterhergerufen, er würde sie auch bis zur Küste mitnehmen, aber sie hatte dankend abgelehnt.

Mrs. Olson hieß Annette mit Vornamen, aber gewöhnlich rief Mr. Olson sie "
    Weib
", wenn er sie in dem großen Haus suchte. Die beiden hießen in Winslow nur "
    die Dänen
", obwohl sie gebürtig aus Maine waren. Die ganze Stadt war voller seltsamer Spitznamen.
Rubys Zimmer lag im ersten Stock, mit dem Blick in den Innenhof, ausgestattet mit einer winzigen Küche und einer Toilette. Die Etagendusche war am Ende des Flures. Sie war jeden Abend dankbar, dass es das erste Zimmer direkt an der Treppe war, so musste sie nicht über den ganzen Flur laufen und sich der Gefahr ausliefern, von den anderen Mitbewohnern abgefangen zu werden, wenn sie nach Hause kam.

Es war viertel vor elf, als sie nach Hause kam und sie wollte nur noch eine Kleinigkeit essen und ins Bett gehen. In dem dunklen Zimmer warf sie die Einkäufe auf den Tisch, schaltete den Fernseher ein, statt Licht anzumachen.
Im Erdgeschoss des Hauses lag die große Küche, in der Annette Olson das Frühstück für alle vorbereitete, das Speisezimmer und ihre eigenen Räume sowie der Luxus der Pension, eine Waschküche mit Waschmaschine und Wäscheleinen von Wand zu Wand. Die Olsons bestanden allerdings sehr strikt darauf, dass Unterwäsche nicht dort aufgehängt wurde. Manchmal wusch Mrs. Juárez ihre Kinder in der Waschküche und ließ sie dort nackig herumlaufen, bis sie wieder trocken waren. Sie hatte ihren Mann verlassen und lebte mit den Kindern in einem Raum im zweiten Stock. Manchmal hörte es sich so an, als würden die Kinder das ganze Haus bevölkern.
Ruby mochte die beiden, ein Junge und ein Mädchen mit dunklen großen Knopfaugen, schwarzem Haar und ständigen Rotznasen. Wenn sie ihnen aus dem Supermarkt Süßigkeiten mitbrachte, waren sie schüchtern und glaubten wahrscheinlich, sie wäre eine Abgesandte des Weihnachtsmannes. Niemand im Haus war in Rubys Alter, aber sie fühlte sich wohl und wäre selbst dann nicht ausgezogen, wenn sie sich eine eigene Wohnung hätte leisten können. Sie brauchte Menschen um sich herum, um sich wie in einer Familie zu fühlen. Alleine in einer Wohnung würde sie zu sehr ins Grübeln kommen.

    Hundertdreizehn
, dachte sie,
    nicht schlecht für einen Mittwoch. Mit viel Glück kann ich mir am Samstag so viel Campari Orange reinziehen, bis ich es zum Kotzen nicht mehr aufs Klo schaffe.

Sie stand jeden Morgen um zehn Uhr auf, frühstückte mit den Dänen und einigen der anderen Gäste des Hauses und verließ die Pension eine Stunde später. Im Sommer fuhr sie mit dem Rad, aber während der Wintermonate stand das im Innenhof und wartete geduldig darauf, dass Schnee und Eis verschwanden.
Manchmal verbrachte sie die Zeit bis zu ihrem Einsatz an der Fahrkartenfront in der öffentlichen Bücherei, manchmal fuhr sie per Anhalter bis nach Augusta. Gewöhnlich hatte sie eines ihrer Taschenbücher dabei. Sie lieh sich nie Bücher aus, las sie nur in der Bücherei, wo sie sich stundenlang an einen der Tische setzte. Sie hatte immer Angst, sie würde den Abgabetermin vergessen und Strafe zahlen müssen. Blieb sie in Winslow, sah man sie häufig im Café, wo sie einen Kaffee bestellte und Zeitung las, oder sie traf sich mit Mona. In den Wintermonaten gingen sie gerne zum Schlittschuhlaufen auf den zugefrorenen See, dort drehten sie ihre Runden, genoss die eisige Luft und Ruby stellte sich vor, sie sei jemand Berühmtes auf dem Eis. Keine Eiskunstläuferin, sondern die erste Frau, die den Stanley Cup mit ihrer Mannschaft gewann.

In der High School war sie überdurchschnittlich gut gewesen, aber diese Maßstäbe konnten in Winslow, Maine, nicht mehr angelegt werden. In Winslow war sie vierundzwanzig Jahre alt, hatte ihr erdbeerfarbenes Haar sehr kurz geschnitten und arbeitete unauffällig hinter
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