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Rubinrotes Herz, eisblaue See

Rubinrotes Herz, eisblaue See

Titel: Rubinrotes Herz, eisblaue See
Autoren: Morgan Callahan Rogers
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eingesperrt sein würde. Der Gedanke war unerträglich. »Nein«, sagte ich und ließ das rubinrote Weinglas fallen, das wundersamerweise nicht zerbrach, als es auf dem Boden landete. Ich vergrub das Gesicht in den Händen und versuchte, die Vorstellung loszuwerden, wie sich lauter kleine Krabbeltiere durch meinen armen Daddy fraßen.
    Bilder von ihm schossen mir durch den Kopf. Wie er Grand und mir vom Boot aus zuwinkte, vom Kai heraufkam oder zum Hafen hinunterging, Fallen ins Wasser warf, Kaffee aus seinem kleinen roten Becher trank, dem Wal zusah. Wie ich seine Hand hielt, ihn umarmte. Wie wir uns stritten. Wie ich ihm wehtat. Wie wir uns wieder vertrugen. Wie wir uns liebten, ganz gleich, was geschah. Wie wir die schlimmste Zeit in unserem Leben durchstanden. Ich fing an zu weinen.
    »Hol mal die Kleenex«, sagte Dottie zu Glen.
    Doch Bud hatte schon ein weißes Stofftuch aus seiner Tasche gezogen. Ich putzte mir geräuschvoll die Nase, knüllte es zusammen und wischte mir über die Augen.
    »Ich ertrage den Gedanken nicht, dass er da in der Erde liegt«, sagte ich schniefend. »Von Würmern zerfressen, bis auf die Knochen. Er fände es schrecklich.«
    »Naja«, sagte Dottie. »So ist das nun mal.«
    »Ich weiß. Aber er wäre viel lieber draußen im Wasser.«
    »Unten bei den Fischen«, sagte Glen.
     
    Der Tag der Beerdigung war wie der, an dem er gestorben war. Wir gingen unter einem warmen, blauen Himmel zur Kirche. Die Bänke waren dicht besetzt, wie bei Grands Beerdigung. Stella drückte sich an mich, einen Arm bei mir eingehakt. Sie schluchzte während des gesamten tränenreichen Gottesdienstes, während ich schniefend versuchte, Pastor Billy zuzuhören, der mehrfach innehielt, um sich die Nase zu putzen. Glen hatte mir erzählt, dass Billy ursprünglich darüber sprechen wollte, was für einen guten Pokerspieler wir verloren hätten, sich dann jedoch dagegen entschieden hatte, weil er dachte, die Leute könnten es falsch verstehen. Er sprach stattdessen über Männer, die mit ihren Booten für immer auf See blieben, über Daddys Liebe zum Meer, zu seiner Familie und seinen Freunden und zu seiner Heimat, The Point.
    Nach dem Gottesdienst verließen wir die Kirche und brachten Daddy zum Grab. Wieder plagte mich die Vorstellung, wie er unter der Erde lag, und ich erschauerte und fing an zu weinen. Stella legte den Arm um mich und sagte: »Ich weiß. Was sollen wir nur ohne ihn anfangen?« Dann warf sie sich schluchzend an Madelines Hals. »Was soll ich nur tun?«
    Die Sonne schien mir in den Nacken, wie sie es nur vier Tage zuvor auch getan hatte, aber diesmal fuhr sie die Krallen aus, heiß und scharf. Schweiß rann mir zwischen den Brüsten hinunter, sammelte sich in meinem Bauchnabel und tränkte die Vorderseite meines Hemds und meiner Unterhose. Ich sah zum Himmel hinauf, dann wurde alles weiß, und als ich wieder zu mir kam, lag ich neben dem Grab auf der Erde, die Sargträger beugten sich über mich, und Bud berührte mein Gesicht.
    »Alles in Ordnung?«, fragte er.
    »Oh, die arme Florine«, rief Stella von irgendwoher. Bud und Glen halfen mir vorsichtig hoch und brachten mich zum Auto. So sah ich nicht, wie sie Daddy in die Erde senkten, was mir womöglich den Rest gegeben hätte.
    Hinterher beim Leichenschmaus saß ich in einem Liegestuhl im Schatten eines Ahorns, in dem noch die Überreste der Schaukel hingen, die Daddy für mich aufgehängt hatte, als ich ungefähr fünf war. Das Holzbrett war vermodert, aber ich fuhr mit den Händen an einem der dicken Seile entlang, an denen es befestigt war, und spürte, wie sich winzige Fusseln in meinen Fingern und meiner Handfläche verfingen.
    Der Anblick von Daddys Freunden machte mich traurig. Sie standen alle draußen, rauchten, tranken und redeten oder schwiegen. Trauer lag in ihren Augen wie glänzende Steine. Sie waren zusammen aufgewachsen, hatten zusammen Hummer gefangen, Frauen geliebt und Kinder großgezogen, und jetzt war der Erste von ihnen gestorben. Sie wirkten plötzlich kleiner, als könnte das Schicksal auch sie jeden Moment ereilen.
    Immer wieder kam jemand, um nach mir zu sehen, was mir nach einer Weile auf die Nerven ging, und als Dottie auftauchte, sagte ich zu ihr: »Hilf mir mal hoch. Ich hab’s satt, mir wie die Prinzessin auf der Erbse vorzukommen.« Sie zog mich auf die Füße, und ich mischte mich für eine Weile unter die Gäste. Gegen vier beschloss ich, zu Grands Haus rüberzugehen und mich ein Weilchen hinzulegen. »Ich
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