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Rubinrot

Rubinrot

Titel: Rubinrot
Autoren: Kerstin Gier
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irritiert (gleich zweifach irritiert: zum einen durch die Frage, aber beinahe noch mehr durch die plötzliche Nähe zu ihm). »Ich?«
    »Du könntest diejenige gewesen sein, die Lucy und Paul unseren Treffpunkt verraten hat.«
    »Was?« Ich schaute sicher kolossal dämlich drein. »So ein Blödsinn! Wann sollte ich denn das getan haben? Ich weiß ja noch nicht mal, wo der Chronograf sich überhaupt befindet. Und ich würde doch niemals zulassen, dass . . .« Ich brach ab, bevor ich mich noch verplapperte.
    »Gwendolyn, du hast keine Ahnung, was du in der Zukunft alles tun wirst.«
    Das musste ich erst mal verdauen.
    »Genauso gut könntest du es selber gewesen sein«, sagte ich dann.
    »Stimmt auch wieder.« Gideon zog sich wieder auf seine Seite vom Beichtstuhl zurück und im Dämmerlicht sah ich seine Zähne weiß aufblitzen. Er lächelte. »Ich glaube, das wird ziemlich spannend mit uns in der nächsten Zeit.«
    Der Satz verursachte ein warmes Kribbeln in meinem Magen. Die Aussicht auf künftige Abenteuer hätte mich vermutlich ängstigen müssen, aber in diesem Augenblick erfüllte sie mich mit nichts als einem wilden Glücksgefühl.
    Ja, das
würde
spannend werden.
    Eine Weile schwiegen wir. Dann sagte Gideon: »Neulich in der Kutsche, als wir über die Magie des Raben gesprochen haben -erinnerst du dich daran?«
    Natürlich erinnerte ich mich daran. An jedes einzelne Wort.
    »Du hast gesagt, dass ich diese Magie nicht haben könnte, weil ich nur ein ganz gewöhnliches Mädchen sei. Ein Mädchen, wie du sie haufenweise kennst. Die immer nur in Gruppen aufs Klo gehen und über Lisa lästern, die . . .«
    Eine Hand legte sich auf meine Lippen. »Ich weiß, was ich gesagt habe.« Gideon hatte sich von seiner Seite der Kabine weit zu mir hinübergebeugt. »Und es tut mir leid.«
    Was?
Ich saß da wie vom Donner gerührt, unfähig mich zu bewegen oder auch nur zu atmen. Seine Finger berührten vorsichtig meine Lippen, streichelten mein Kinn und tasteten sich die Wange hinauf bis an meine Schläfe.
    »Du bist nicht gewöhnlich, Gwendolyn«, flüsterte er, während er anfing, mir durchs Haar zu streichen. »Du bist ganz und gar ungewöhnlich. Du brauchst keine Magie des Raben, um für mich etwas Besonderes zu sein.« Sein Gesicht kam noch näher. Als seine Lippen meinen Mund berührten, musste ich die Augen schließen.
    Okay. Ich würde dann jetzt mal in Ohnmacht fallen.
     
    Aus den Annalen der Wächter 24. Juni 1912
     
    Sonnenschein, 23 Grad im Schatten. Lady Tilney erscheint pünktlich um neun Uhr zum Elapsieren.
    Der Verkehr in der City wird durch einen Protestmarsch verrückt gewordener Weiber behindert, die das Wahlrecht für Frauen fordern. Eher werden wir Kolonien auf dem Mond gründen, als dass das passiert. Ansonsten keine besonderen Vorkommnisse.
     
    Bericht: Frank Mine, Innerer Kreis
     

Epilog
    Hyde Park, London 24. Juni 1912
     
    »Diese Sonnenschirme sind wirklich praktisch«, sagte sie und ließ ihren im Kreis wirbeln. »Ich verstehe nicht, warum sie abgeschafft wurden.«
    »Möglicherweise, weil es hier pausenlos regnet?« Er grinste sie von der Seite an. »Aber ich finde die Dinger auch sehr niedlich. Und weiße Spitzensommerkleider stehen dir ganz großartig. Allmählich gewöhne ich mich auch an die langen Röcke. Es ist immer so ein schöner Augenblick, wenn du sie wieder ausziehst.«
    »Ich werde mich aber niemals daran gewöhnen, keine Hosen mehr zu tragen«, jammerte sie. »Ich vermisse meine Jeans täglich sehr schmerzlich.«
    Er wusste genau, dass es nicht die Jeans waren, die sie schmerzlich vermisste, aber er hütete sich, das zu sagen. Eine Weile schwiegen sie.
    Der Park wirkte so wunderbar friedlich in der Sommersonne, die Stadt, die sich dahinter ausbreitete, schien wie für die Ewigkeit gebaut. Er dachte darüber nach, dass in zwei Jahren der Erste Weltkrieg beginnen würde und deutsche Zeppeline Bomben über London abwerfen würden. Vielleicht müssten sie sich dann für einige Zeit aufs Land zurückziehen.
    »Sie sieht genauso aus wie du«, sagte sie plötzlich.
    Er wusste sofort, von wem sie redete. »Nein, sie sieht aus wie du, Prinzessin! Nur die Haare hat sie von mir.«
    »Und diese Art, den Kopf schief zu legen, wenn sie über etwas nachdenkt.«
    »Sie ist wunderschön, oder?«
    Sie nickte. »Komisch ist das schon. Vor zwei Monaten haben wir sie als Neugeborenes im Arm gehalten und jetzt ist sie schon sechzehn Jahre alt und einen halben Kopf größer als ich. Und nur noch zwei
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