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Roter Regen

Titel: Roter Regen
Autoren: Michael Moritz
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Gegröle folgten. Die
Stimmung auf dem Marktplatz war auf dem Höhepunkt, doch Schlaicher war sich
sicher, dass das noch nicht alles gewesen sein konnte. Da war immer noch dieses
Paket, das der Helikopter transportierte. Was für eine Überraschung hatten die
Veranstalter sich da nur ausgedacht? Er vergaß sogar, dass er eigentlich
unterwegs war, um etwas zu trinken zu besorgen. Stattdessen jubelte er einfach
nur mit. Was für ein Konzert!
    »Danke!«, rief Melanie, hundertfach verstärkt durch die großen
Boxentürme. »Das ist ja echt eine voll krasse Idee!« Sie zeigte auf das
Hubschraubermodell, und ihr Publikum gab noch einmal alles. »Vor allem passt
es, weil jetzt einer meiner Lieblingssongs kommt, der auch was mit fliegen zu
tun hat. Den hab ich hier in Lörrach geschrieben …« Der Lärm des Publikums war lauter
als die Boxen. Auch von Weitem nahm Schlaicher das engelsgleiche Lächeln auf
Melanies Gesicht wahr. Man sah ihr an, dass sie es liebte, auf der Bühne zu
stehen. Und ihm gefiel es, sie auf der Bühne zu sehen, ihr zuzuhören. Jetzt
führte sie das Mikro ganz nah an ihren Mund und rief: »Denn Lörrach ist meine
…« Sie hielt es ins Publikum, und alle riefen »Shaggy Town!«
    Schlaicher hatte gedacht, dass der Jubel nicht noch lauter werden
konnte. Aber er wurde es. Gleichzeitig setzte die Musik ein, fetzige Gitarrenriffs
und ein fordernder Beat. Die farbigen Lichtspots schossen wie verrückt
gewordene Suchscheinwerfer hin und her, und über den Boden der Bühne zogen
plötzlich schwere Nebelschwaden, die sich langsam nach oben hin ausbreiteten.
    Überall um Schlaicher herum sangen die Leute mit, und auch er selbst
verlor seine Hemmung und stärkte den Chor aus fünftausend Kehlen mit seiner
Stimme. Alle Leute, die er hier in der Gegend kannte, hatten ihm gesagt, dass
die Stimmen-Konzerte auf dem Marktplatz eine unglaubliche Atmosphäre boten.
Und, Mann, sie hatten noch untertrieben. Am liebsten hätte er jetzt Martina im
Arm gehabt, um mit ihr zusammen den Refrain zu singen. Den kannte wirklich
jeder:
    I will always find my way back to Shaggy Town,
    Shaggy Town,
    Loving you, loving you, already flying, flying …
    Als die Menge das erste »Shaggy Town« sang, flog der Hubschrauber
senkrecht in die Höhe. Bei »already flying« setzte er zum Vorwärtsflug an und
verlor schnell an Höhe. Ein paar Leute duckten sich, andere sprangen in die
Luft und versuchten, das Paket zu fangen. Doch so tief kam das Modell nicht,
dass das Ducken nötig oder das Erreichen möglich war. Stattdessen gewann es
unter dem Jubel der Masse wieder an Höhe und flog zurück zu seinem Platz.
    »Wie krass ist das denn?«, rief Melanie in einer Textpause. Sie
hüpfte auf und ab und lief ständig über die Bühne, sang die zweite Strophe,
lief zu Pablo, dem kubanischen Schlagzeuger, und hielt das Mikro in die Menge,
als der zweite Refrain anstand.
    »I will always find my way back to Shaggy Town, Shaggy Town« , sangen alle, und in dem Moment entrollte sich der
Stoff unter dem Paket, und ein Banner wehte im Wind.
    »Was ist das?«, fragte jemand. Schlaicher hatte es sofort erkannt,
und wie die meisten anderen begrüßte er das Banner jubelnd. Auf schwarzem
Untergrund war ein weißer Totenkopf abgebildet. Eine Piratenflagge!
    Eine Sekunde später war die Flagge nicht mehr. Man sah nur noch
einen grellen Lichtblitz. Gleichzeitig schoss ein ohrenbetäubender Knall über
den Platz, ein Knattern wie von mehreren Maschinengewehren. Schlaicher spürte
einen heftigen Luftschlag in seinem Gesicht. Vor der Bühne, dort, wo der
Hubschrauber das Banner entrollt hatte, hing jetzt ein Flammenball in der Luft.
Brennende Teile flogen herum. Ein Mann neben Schlaicher begann zu schreien.
Instinktiv hielt er schützend die Arme über seinen Kopf. Das war keine Show
mehr.
    Die Musiker hörten auf zu spielen, ein schriller Pfeifton heulte
sekundenlang aus den Boxen. Melanie brüllte ein »Hey!« ins Mikrofon. Panische
Schreie ertönten, und die Menge kam wie in Zeitlupe in Bewegung. Die Frau, die
Schlaichers Blick zum Helikopter gelenkt hatte, drehte sich in seine Richtung.
Ihre mit zu viel Kajalstift umrandeten Augen waren so weit aufgerissen wie ihr
Mund. Sie schrie und drängte gegen Schlaicher, der noch immer starr dastand.
Die Wand aus Menschen hinter ihm gab quälend langsam nach, während der Druck
von der Bühne aus immer stärker wurde. Die Ohrringe der Frau drückten sich
schmerzhaft in seine Schulter. Das war keine Show, dachte
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