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Roter Engel

Roter Engel

Titel: Roter Engel
Autoren: Tess Gerritsen
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Nachtzeit-Psychose war unter Alzheimer-Patienten sehr verbreitet.
    Toby nahm das Klemmbrett für das Notaufnahme-protokoll in die Hand und schrieb ihre Hieroglyphen für »vitale Werte stabil« und »Pupillenreaktion gleichmäßig« hinein.
    »Toby?« rief Val durch den Vorhang. »Ich habe Mr. Slotkins Sohn am Apparat.«
    »Komme«, sagte Toby. Sie drehte sich um und wollte den Vorhang aufziehen. An den Instrumentenwagen, der gleich dahinter stand, dachte sie nicht. Sie stieß gegen das Tablett, das obenauf lag. Ein stählerne Brechschale fiel polternd auf den Boden.
    Toby bückte sich und hob sie auf, als sie hinter sich ein anderes Geräusch hörte – ein seltsames, rhythmisches Rascheln. Sie sah zur Rollbahre.
    Harry Slotkins rechtes Bein zuckte vor und zurück.
    Hatte er einen Anfall?
    »Mr. Slotkin!!« sagte Toby. »Sehen Sie mich an. Harry, sehen Sie mich an!«
    Der Blick des Mannes richtete sich auf ihr Gesicht. Er war bei Bewußtsein, konnte Anweisungen noch befolgen. Seine Lippen bewegten sich, formten Worte, aber alles ohne Ton.
    Das Zucken hörte plötzlich auf, und das Bein lag still.
    »Harry?«
    »Ich bin so müde«, sagte er.
    »Was war das denn gerade, Harry? Haben Sie versucht, Ihr Bein zu bewegen?«
    Er schloß die Augen und seufzte. »Machen Sie das Licht aus.«
    Toby sah ihn mit gerunzelter Stirn an. War das ein Anfall gewesen? Oder bloß ein Versuch, das angebundene Fußgelenk freizubekommen? Er schien jetzt wieder ganz ruhig zu sein. Beide Beine waren bewegungslos.
    Sie ging durch den Trennvorhang und zum Schwesternschreibtisch.
    »Der Sohn auf Leitung drei«, sagte Val.
    Toby nahm den Hörer auf. »Hallo, Mr. Slotkin? Hier ist Dr. Harper vom Springer Hospital. Vor ein paar Minuten ist Ihr Vater hier in unsere Notaufnahme eingeliefert worden. Er scheint keine Verletzungen zu haben, aber er …«
    »Was ist passiert?«
    Toby machte eine Pause. Die Schärfe, mit der Daniel Slotkin zurückfragte, überraschte sie. War das Ärger in seiner Stimme oder Angst? Ruhig antwortete sie: »Man hat ihn in einem Park gefunden. Die Polizei hat ihn hergebracht. Er ist agitiert und verwirrt. Ich kann keine fokalen neurologischen Probleme entdecken. Hat Ihr Vater eine Alzheimer-Anamnese? Oder sonst ein medizinisches Problem?«
    »Nein. Nein, er ist nie krank gewesen.«
    »Auch keine Anzeichen von Demenz?«
    »Mein Vater ist besser drauf als ich.«
    »Wann haben Sie ihn zum letztenmal gesehen?«
    »Ich weiß nicht. Vor ein paar Monaten, glaube ich.«
    Toby nahm das schweigend zur Kenntnis. Wenn Daniel Slotkin in Boston wohnte, war das weniger als zwanzig Meilen von hier. Bestimmt keine Entfernung, die einen so seltenen Kontakt zwischen Vater und Sohn erklärte.
    Als ahne er ihre unausgesprochene Frage, fügte Daniel Slotkin hinzu: »Mein Vater ist sehr beschäftigt. Golf. Eine tägliche Pokerrunde im Country Club. Es ist gar nicht so leicht, gemeinsame Termine zu finden.«
    »Und vor einigen Monaten war er geistig ganz frisch?«
    »Sagen wir mal so: Als ich ihn das letzte Mal sah, hielt mein Vater mir einen Vortrag über Investment-Strategien. Von A bis Z, von Börsenoptionen bis zu den Preisen von Sojabohnen. Das überstieg
meinen
Horizont, nicht seinen.«
    »Nimmt er irgendwelche Medikamente?«
    »Nicht, daß ich wüßte.«
    »Kennen Sie den Namen seines Arztes?«
    »Er geht zu einem Spezialisten in dieser Privatklinik in Brant Hill, wo er wohnt. Ich glaube, der Arzt heißt Wallenberg. Sagen Sie, wie verwirrt ist mein Vater denn?«
    »Die Polizei hat ihn auf einer Parkbank gefunden. Er hatte seine Sachen ausgezogen.«
    Langes Schweigen am anderen Ende. »Mein Gott.«
    »Ich finde keinerlei Verletzungen. Nachdem Sie sagen, es hat keine Anzeichen von Demenz gegeben, muß es etwas Akutes sein. Vielleicht ein kleiner Schlaganfall. Oder etwas mit dem Stoffwechsel.«
    »Stoffwechsel?«
    »Erhöhter Blutzucker zum Beispiel. Oder ein zu niedriger Natriumspiegel. Beides kann zu Verwirrungszuständen führen.«
    Sie hörte den Mann tief ausatmen. Er klang müde. Und vielleicht auch frustriert. Es war fünf Uhr früh. Um die Zeit geweckt und mit solch einem Krisenfall konfrontiert zu werden, konnte jeden mißmutig machen.
    »Es würde uns helfen, wenn Sie herkämen«, sagte Toby. »Ein bekanntes Gesicht könnte ihm guttun.«
    Der Mann schwieg.
    »Mr. Slotkin?«
    Er seufzte. »Ich glaube, das muß ich wohl.«
    »Wenn es jemand anderen aus Ihrer Familie gibt, der das übernehmen kann …«
    »Nein, es gibt sonst niemanden.
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