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Roter Drache

Roter Drache

Titel: Roter Drache
Autoren: Thomas Harris
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in einer Schublade verschwinden zu lassen, wo er es nicht mehr sehen konnte. Er hatte genug von den Toten mit den weit aufgerissenen Augen. Am liebsten hätte er jetzt Molly angerufen, aber dazu war es noch zu früh.
Für acht Uhr war eine Besprechung im Polizeipräsidium von Atlanta anberaumt. Es war wenig genug, was er ihnen zu sagen hatte.
Er würde zu schlafen versuchen. In seinem Kopf ging es zu wie in einem lebhaften Miethaus - überall Streitereien, und ein Stück den Flur hinunter kam es sogar zu einer Schlägerei. Er fühlte sich leer und hohl, und vor dem Schlafengehen trank er noch zwei Fingerbreit Whisky aus seinem Zahnputzglas. Die Dunkelheit rückte ihm zu dicht auf den Leib, weshalb er aufstand, das Licht im Badezimmer anschaltete und sich wieder ins Bett legte. Er stellte sich vor, Molly wäre im Bad und bürstete sich das Haar. Zeilen aus den Obduktionsbefunden hallten, von seiner eigenen Stimme vorgetragen, in seinem Kopf wider, obwohl er sie nie laut gelesen hatte, »...die Fäzes waren geformt... eine Spur von Talkum auf dem rechten Unterschenkel. Fraktur der mittleren Augenscheidewand infolge des Eindringens einer Spiegelscherbe... «
Graham versuchte an den Strand von Sugarloaf Key zu denken; er versuchte das Rauschen der Wellen zu hören. Er stellte sich seine Werkbank vor und dachte über die Hemmung der Wasseruhr nach, die er und Willy bauten. Er sang mit angehaltenem Atem ›Whisky River‹ und probierte dann aus, ob er den ›Black Mountain Rag‹ von Anfang bis Ende hinbekommen würde. Mollys Lieblingsstück. Doc Watsons Gitarrenspiel war über jeden Tadel erhaben, aber er verlor jedesmal den Faden, wenn das Fiedelsolo einsetzte. Molly hatte ihm hinter dem Haus den Holzschuhtanz beizubringen versucht, und sie hopste auf und ab... und schließlich schlief er ein.
Eine Stunde später wachte er schweißgebadet auf und sah, wie sich die Silhouette des Kopfkissens neben ihm gegen das aus dem Bad fallende Licht abhob. Und es war Mrs. Leeds, die schmerzverzerrt und zerschunden neben ihm lag, die Augen ausgestochen und Blutrinnsale wie ein Brillengestell über ihre Schläfen und Ohren fließend. Er war nicht in der Lage, seinen Kopf herumzudrehen, um sie anzusehen. Sein Gehirn jaulte wie ein Feueralarm, bis er endlich seine Hand ausstreckte und trockenen Bezugsstoff ertastete.
Dies verschaffte ihm unverzügliche Erleichterung. Er stand mit klopfendem Herzen auf und schlüpfte in ein trockenes TShirt. Das durchgeschwitzte warf er in die Badewanne. Er brachte es nicht über sich, sich in die trockene Seite des Betts zu legen; statt dessen breitete er ein Badetuch über das naßgeschwitzte Laken. Er setzte sich, den Rücken gegen das Kopfteil gestützt, mit einem vierstöckigen Glas Whisky ins Bett. Etwa ein Drittel davon trank er.
Er suchte nach etwas, an das er hätte denken können - irgend etwas. Schließlich fiel ihm die Apotheke ein, in der er das Bufferin gekauft hatte - vielleicht, weil dies das einzige Erlebnis des ganzen Tages gewesen war, das nichts mit dem Tod zu tun hatte.
Dabei fielen ihm auch die alten Drugstores aus seiner Jugend wieder ein. In seiner Jugend hatte diesen Drugstores immer ein Hauch des Verbotenen angehaftet. Jedesmal, wenn er einen betrat, spielte er mit dem Gedanken, sich ein paar Gummis zu kaufen, ob er sie nun brauchte oder nicht. Jedenfalls standen auf den Regalen Dinge herum, auf denen man den Blick besser nicht zu lange ruhen ließ.
In der Apotheke, in der er das Bufferin gekauft hatte, waren die Verhütungsmittel mit ihren ausführlich bebilderten Packungen in einem durchsichtigen Kasten an der Wand hinter der Ladenkasse untergebracht, eingerahmt wie ein Kunstwerk.
Ihm war der altmodische Drugstore seiner Kindheit lieber. Graham ging auf die vierzig zu und begann allmählich das leichte Ziehen und Zerren der Welt, wie sie damals gewesen war, zu spüren; sie war wie ein Anker, den man bei schwerer See hinter sich fieren ließ.
Und dann fiel ihm Smoot ein. Der gute, alte Smoot hatte damals für den Apotheker, dem der Drugstore gehörte, das Geschäft geführt. Smoot, der während der Arbeit trank und die Markise auszufahren vergaß, so daß die Gummisohlen der Turnschuhe im Schaufenster schmolzen. Smoot, der mehrfach die Kaffeemaschine auszuschalten vergaß, so daß die Feuerwehr anrücken mußte. Smoot, der die Kinder anschreiben ließ, wenn er ihnen Eis verkaufte.
Doch seine absolute Glanztat bestand darin, von einem Großhändler fünfzig Kewpie-Puppen zu
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