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Rot und Schwarz

Titel: Rot und Schwarz
Autoren: Stendhal
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Größten!« Er lachte verächtlich auf. »Wahrlich, kein Mensch darf einem Menschen trauen!« Napoleon fiel ihm ein. »Napoleon auf Sankt Helena ...«, rief er aus, »ein Komödiant, dem Könige von Rom zuliebe ... Allmächtiger! Wenn sich solch ein Gigant, noch dazu im Unglück, das ihn ernstlich an seine Mannespflicht ermahnte, zum Scharlatan erniedrigte, was kann man dann von den andern erwarten?
    Wo ist Wahrheit?
    In der Religion?« Bittres Lächeln umspielte seine Lippen. »Im Munde eines Maslon, eines Frilair, eines Castanède? Nein. Vielleicht im echten Christentum, dessen Priester ebensowenig bezahlt werden wie zu Zeiten der ersten Apostel? Nein. Paulus ward bezahlt durch sein Vergnügen am Befehlen, am Reden, am Sich-in-Szene-Setzen...
    In der innigsten Religiosität? Tor, der ich bin! Ich stehe in einem alten gotischen Dome mit feierlich leuchtenden hohen Fenstern – und mein armes Herz erträumt sich den Priester dazu ... Meine Seele verlangt nach ihm, erschaut ihn in Sehnsucht ... und es erscheint ein Trottel mit schmierigen Haaren...
    Aber es gibt auch wahre Geistliche ... Massillon ... Fenelon ...
    Aber Massillon hat Dubois die Weihe gegeben, und Fenelon ist mir durch die Denkwürdigkeiten des Herzogs von Saint-Simon verleidet!
    Und wenn es einen idealen Priester gäbe ... eine Zuflucht der feinfühligen Seelen auf Erden ... einen Hort in all unsrer Einsamkeit und Verlassenheit... von welchem Gotte würde uns dieser gute Hirte predigen? Nicht von dem der Bibel, diesem kleinlichen, grausamen, rachgierigen Tyrannen ... sondern vom Gotte Voltaires ... einem gütigen, gerechten, unendlichen Gotte...«
    Allerlei Erinnerungen an die auswendig gelernte Bibel wurden in ihm lebendig. »Bei dem schrecklichen Mißbrauch, den die Priester mit dem großen Begriffe Gott treiben, wo gibt es da noch einen Glauben, der auch nur drei Menschen einte? Ein jeder ist allein ...
    Allein! Welche Hölle!«
    Julian schlug sich an die Stirn.
    »Ich werde verrückt und ungerecht! Ich sitze einsam und verlassen in meiner Zelle. Aber ich bin nicht einsam über die Erde gewandelt. In mir lebte und webte die mächtige Idee der Pflicht. Die Pflicht, die ich mir selber gesetzt, mit Recht oder mit Unrecht, war mir der feste Stamm eines Baumes, an den ich mich stützte im Sturm. Ich habe geschwankt. Wind und Wetter haben mich geschüttelt. Ich war ja nur ein Mensch. Aber ich habe mich nicht zu Boden werfen lassen!
    Nur die dumpfe, feuchte Kellerluft meiner Zelle hat mir vorgelogen, ich sei ein Einsamer...
    Doch warum soll ich noch Heuchler sein, ich, der ich die Heuchelei verfluche? Es ist nicht der nahe Tod, nicht das Gefängnis, nicht die Kerkerluft, die mich niederwirft. Es ist die Trennung von Luise Rênal! Hätte ich mich beklagt, wenn ich in Verrières oder Vergy, um bei ihr zu sein, wochenlang im Keller ihres Hauses hätte leben müssen?«
    Bitter auflachend rief er laut aus: »Der Einfluß meiner Zeitgenossen verführt mich. Im Selbstgespräch, drei Schritt vor dem Tore des Todes, bin ich noch ein Heuchler! Pfui, neunzehntes Jahrhundert!
    Ein Jäger schießt im Wald ein Tier. Seine Beute fällt. Er stürzt auf sie. Dabei stößt sein Stiefel gegen einen großen Ameisenhaufen. Der Bau wird zerstört, und Ameisen und Eier liegen verstreut am Boden ... Die Philosophen unter den Ameisen werden nie begreifen können, was für ein riesiges, schwarzes, fürchterliches Ding das war: dieser Jagdstiefel, der urplötzlich mit unglaublicher Geschwindigkeit in ihre Welt eindrang, nachdem ein schrecklicher Knall und eine rötliche Feuergarbe erfolgt war...
    Ganz ähnlich wären Leben, Tod und Ewigkeit die einfachsten Dinge für jemanden, der die Organe hätte, sie zu begreifen...
    Eine Eintagsfliege kriecht am frühen Morgen eines Hochsommertages aus und stirbt, wenn die Sonne untergeht. Wie kann sie begreifen, was Nacht ist? Gebt ihr fünf Stunden länger zu leben, und sie erlebt und weiß, was Nacht ist.
    So ist es auch mit mir, Ich sterbe mit dreiundzwanzig Jahren. Gebt mir fünf Jahre Leben mit Luise...«
    Er lachte wie Mephisto. »Welche Narrheit, an diese hohen Probleme zu rühren!
    Erstens heuchle ich, als ob ich einen Zuschauer hätte... Zweiten« vergesse ich zu leben und zu lieben, wo mir nur so kurze Frist zum Leben verbleibt... Ach, Frau von Rênal ist fern. Wahrscheinlich duldet ihr Mann nicht, daß sie noch einmal nach Besançon kommt und sich noch mehr entehrt...
    Das ist, was mich einsam macht! Keineswegs der
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