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Rot und Schwarz

Titel: Rot und Schwarz
Autoren: Stendhal
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unfreiwilligen Abreise erfahren. Indem sie darin die Ursache von Julians schlechter Laune erkannte, brach sie in Tränen aus.
    Ihr Schmerz war echt. Julian sah es, wurde aber dadurch nur noch mehr gereizt. Er hatte ein unsagbares Bedürfnis nach Einsamkeit. Wie sollte er sie sich schaffen?
    Endlich ließ ihn Mathilde allein, nachdem sie alles aufgeboten hatte, ihn zu erweichen. Aber gleich darauf trat Fouqué ein.
    »Ich habe das Bedürfnis, allein zu sein«, sagte Julian zu seinem treuen Freunde, und als er ihn trotzdem zaudern sah, fügte er hinzu: »Ich bin bei der Abfassung meines Begnadigungsgesuches. Übrigens... tu mir den Gefallen und sprich mir nicht vom Tode! Wenn ich am betreffenden Tage noch irgendeines besonderen Dienstes bedürfen sollte, werde ich von selber davon anfangen.«
    Als Julian endlich die Einsamkeit errungen hatte, gelangte er zu der Erkenntnis, daß er verzagter und feiger war als je zuvor. Der Rest von Kraft, der seiner geschwächten Seele verblieben war, hatte sich bei der Bemühung erschöpft, seinen wahren Zustand vor Mathilde und Fouqué zu verbergen.
    Gegen Abend kam ihm ein tröstlicher Gedanke: »Hätte man mich heute morgen in dem Augenblicke, da mir der Tod so häßlich erschien, den letzten Gang gehen lassen, so wären mir die Blicke der gaffenden Menge ein Ansporn zum Heldentum gewesen. Meine Haltung hätte vielleicht etwas Steifes gehabt, ähnlich der eines schüchternen Dandys, der einen Salon betritt. Scharfe Augen, wenn es die unter solchen Kleinstädtern gibt, hätten meine heimliche Schwachheit vielleicht erraten können. Aber wirklich erkannt hätte sie keiner!«
    Eine Last sank von seiner Seele.
    »Zur Stunde bin ich eine Memme; aber kein Mensch soll es erfahren.«
    Ein ihm fast noch widerlicheres Ereignis erwartete ihn am nächsten Morgen. Bereits seit langem hatte ihm sein Vater einen Besuch angekündigt. Frühzeitig erschien der alte weißhaarige Sägemüller in Julians Zelle, noch ehe dieser wach war.
    Julian fühlte alle Kräfte schwinden und machte sich auf die unangenehmsten Vorwürfe gefaßt. Zur Verschlimmerung seiner peinlichen Lage empfand er urplötzlich lebhafte Reue darüber, daß er seinen Vater nicht liebte.
    »Der Zufall hat uns nebeneinander in die Welt gesetzt«, sagte er sich. »Wir haben einander so ziemlich alles Üble zugefügt. Angesichts meines Todes kommt er, mir den letzten Hieb zu versetzen.«
    Als der Wärter, der die Zelle etwas in Ordnung gebracht hatte, hinaus war, begannen die heftigen Vorwürfe des alten Mannes. Julian hatte nicht die Kraft, seine Tränen zurückzuhalten.
    »Welch würdelose Schwäche!« tadelte er sich wütend. »Er wird aller Welt ausposaunen, ich hätte keinen Mut gehabt. Wie wird dann Valenod triumphieren und alle die albernen Heuchler, die in Verrières regieren. Sie und ihre Genossen bilden die Hauptpartei im Lande. Sie haben alle sozialen Vorteile in den Händen. Bisher konnte ich mir wenigstens sagen: Sie haben zwar das Geld, und alle Ehren häufen sich auf sie, aber ich habe den Adel des Herzens. Nun aber tritt ein Zeuge auf, dem sie alle glauben werden, der vor ganz Verrières schwört, ich sei vor dem Tode schwach geworden. Ich stehe als Memme da...«
    Julian war der Verzweiflung nahe. Er wußte nicht, wie er sich seines Vaters entledigen sollte. Dermaßen zu heucheln, daß er den scharfäugigen Alten täuschte, dies ging in diesem Augenblick weit über seine Kraft.
    Sein Geist durchlief rasch alle Möglichkeiten.
    »Ich habe Ersparnisse!« rief er plötzlich.
    Dieser geniale Einfall änderte den Gesichtsausdruck des alten Mannes und die Situation beider mit einem Schlage.
    »In welcher Weise soll ich über sie verfügen?« fuhr Julian, ruhig geworden, fort. Der Eindruck, den seine Worte gemacht, hatte ihn jeglicher Schwäche enthoben.
    Den alten Sägemüller gelüstete es, seines Sohnes gesamte Hinterlassenschaft an sich zu reißen. Offenbar wollte Julian einen Teil seinen Brüdern zukommen lassen. Als er seinen Vater hierüber eifrig und lange reden sah, erwachte wieder der Spötter in ihm.
    »Meinetwegen«, sagte er. »Gott der Herr leuchtet mir zu meinem Testament. Ich vermache meinen beiden Brüdern je tausend Franken und den Rest dir!«
    »Gut! Dieser Rest kommt mir zu!« meinte der Alte. »Denn da der liebe Gott in seiner Gnade dein Herz gerührt hat, so gehört es sich auch für dich, der du als guter Christ sterben willst, daß du deine Schulden bezahlst. Ich meine da die Kosten für deine Erziehung
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