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Rot und Schwarz

Titel: Rot und Schwarz
Autoren: Stendhal
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rechten Augenblick unbemerkt dieser Welt zu entschlüpfen; aber noch hegte er Hoffnung, Frau von Rênal wiederzusehen, nach der er sich maßlos sehnte.
    Das Tor des Gefängnisses ging nach einer der belebtesten Straßen. Der Gedanke, daß der dreckige Pfaffe die Menge anlockte und Ärgernis verursachte, quälte Julians Seele. »Zweifellos schreit er immerfort meinen Namen aus!« sagte er sich. Die Unruhe darüber war ihm qualvoller als der Tod.
    Wiederholt, von Stunde zu Stunde, rief er einen ihm ergebenen Wärter und ließ ihn nachsehen, ob der Priester noch immer vor dem Tore stehe.
    »Herr Sorel«, lautete immer wieder der Bescheid, »er liegt auf den Knien und betet mit lauter Stimme für Ihr Seelenheil.«
    »Der Unverschämte!« dachte Julian. Da hörte er tatsächlich dumpfes Gemurmel. Es war das Volk, das die Litanei mitleierte. Sein Ekel steigerte sich, als er sah, daß auch der Wächter seine Lippen bewegte und die lateinischen Worte nachschwatzte.
    »Die Leute meinen längst, sie müßten ein ganz verstocktes Herz haben, daß Sie den Zuspruch dieses heiligen Mannes von sich weisen!« sagte der Wärter.
    »Frankreich!« rief Julian zornestrunken aus. »Was für ein Land der Barbarei bist du noch!« Die Anwesenheit des Wächters vergessend, redet er ganz laut weiter. »Der Kerl will, daß die Zeitungen von ihm berichten, und das wird ihm gewiß gelingen. Diese gottverdammte Kleinstadt! In Paris wäre ich solchen und ähnlichen Belästigungen nicht ausgesetzt. Dort hat selbst Humbug Kultur.«
    »Lassen Sie den heiligen Mann herein!« befahl er schließlich dem Wärter. Der Schweiß rann ihm in Strömen über die Stirn.
    Der Wächter schlug ein Kreuz und verschwand vergnügt. Der alsbald eintretende Pfaffe sah schrecklich häßlich aus. Er war noch schmutziger denn am Morgen. Der Regendunst, den er verbreitete, vermehrte die Feuchtigkeit des dunklen Verlieses.
    Der Priester wollte Julian um den Hals fallen. Je mehr er redete, um so rührseliger wurde er. Seine erbärmliche Heuchelei war unverkennbar. Sein Leben lang war Julian nicht so empört gewesen.
    Nach einer Viertelstunde war Julian gebrochen. Zum ersten Male graute ihm vor dem Tode. Er gedachte des Zustandes der Verwesung, in dem sich sein Körper zwei Tage nach der Hinrichtung befinden werde.
    Es fehlte nicht viel, so hätte sich Julians Schwäche verraten, oder er hätte sich auf den Pfaffen gestürzt und hätte ihn mit seiner Kette erwürgt. Da kam ihm der Einfall, ihn zu ersuchen, eine anständige Messe für vierzig Franken noch am nämlichen Tage für ihn zu lesen.
    Es schlug zwölf; da zog der Mann Gottes ab.
    Wie er weg war, weinte Julian heftig. Er weinte, weil er sterben mußte. Mehr und mehr ward ihm klar, daß er Frau von Rênal seine Schwäche beichten wollte. Aber sie war nicht da...
    In dem Augenblick, wo er am stärksten bedauerte, daß er sie nicht bei sich hatte, vernahm er Mathildens Schritte.
    »Das allerschlimmste Unglück eines Gefangenen liegt darin, daß er niemanden abweisen kann«, dachte er.
    Alles, was ihm Mathilde sagte, reizte und erregte ihn. Sie erzählte, Valenod habe am Tage des Schwurgerichts seine Ernennung zum Landrat bereits in der Tasche gehabt und es deshalb gewagt, dem Großvikar von Frilair einen Streich zu spielen, indem er sich das Vergnügen machte, Julians Verurteilung zum Tode zu bewirken.
    »Herr von Frilair hat zu mir gesagt: ›Wie konnte es Ihrem Freunde nur einfallen, die kleinliche Eitelkeit der herrschenden Spießbürger herauszufordern und anzugreifen? Wozu erwähnte er den Klassenunterschied? Damit zeigte er ihnen den Weg, den ihr sozialer Egoismus zu gehen hatte. Die Schafsköpfe dachten zunächst gar nicht daran. Am liebsten hätten sie rührselig geheult. Erst der Parteigeist hat ihnen über die Scheu vor einem Todesurteil hinweggeholfen. Man muß sagen, daß Herr Sorel in derartigen Dingen wirklich unerfahren ist. Wenn es uns nicht gelingt, ihn auf dem Gnadenwege zu retten, dann ist sein Tod sozusagen Selbstmord...«
    Etwas konnte ihm Mathilde nicht sagen, da sie es selber noch nicht ahnte: daß nämlich der Abbé von Frilair, seit er Julian für verloren hielt, aus Ehrgeiz und Eigennutz danach trachtete, sein Nachfolger zu werden.
    Julian war vor ohnmächtigem Zorn und Ekel fast außer sich.
    »Geh, ich bitte dich!« sagte er zu Mathilde. »Laß mir einen Augenblick Ruhe und Frieden!«
    Wegen der Besuche Frau von Rênals sowieso schon stark eifersüchtig, hatte sie soeben von ihrer
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