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Ronin. Das Buch der Vergeltung (German Edition)

Ronin. Das Buch der Vergeltung (German Edition)

Titel: Ronin. Das Buch der Vergeltung (German Edition)
Autoren: David Kirk
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aufzuschneiden, die Hayatos Rüstung zusammenhielten, und riss sie ihm Stück für Stück vom Leib. Der Fürst kroch rückwärts, wenn ihn Bennosukes Hände einen Augenblick lang in Ruhe ließen – er war ein Krebs, der langsam seines Panzers entkleidet wurde. Aber er wagte nicht, sich zu erheben, und Bennosuke hielt ihn jedes Mal fest und beraubte ihn einer weiteren Schicht.
    Bald lag der Fürst im Untergewand da, und Bennosuke schlitzte es auf, sodass sein Oberkörper und sein trauriger Armstumpf zum Vorschein kamen. Der Junge nahm Hayatos Kurzschwert zur Hand, das in den Bach gefallen war – der Fürst hatte kein einziges Mal danach gegriffen –, und warf es ihm noch in der Scheide steckend hin. Es traf seine Brust und fiel wieder ins Wasser.
    «Auf die Knie!», befahl Bennosuke. «Ihr vollführt jetzt Seppuku, und ich werde Euch sofort enthaupten.»
    «Bitte, lass mich gehen. Ich gebe dir …»
    «Ich will aber nichts», schnitt ihm Bennosuke das Wort ab.
    Die Spitze seines Langschwerts hing ins Wasser, und dahinter bildete sich eine kleine Bugwelle. Hayato starrte auf die gekräuselte Stelle und sah zu, wie ein rotbraunes Blatt gegen das Schwert getrieben wurde und dann an ihnen beiden vorbeitrudelte. Tränen traten ihm in die Augen, während er mit der verbliebenen Hand sein Kurzschwert zog und sich unsicher und zitternd hinkniete.
    Was sollte er jetzt zu Hayato sagen? Bennosuke war kein großer Redner, war noch jung und nicht in der Lage, hier aus dem Stegreif feierliche Worte zu finden. Er konnte weiter nichts tun, als hilflos die Arme zu heben und zu sagen, was er dachte: «Es ist alles eine einzige Scheiße. Das sehe ich jetzt. Es musste mir erst ganz groß vor Augen geführt werden, aber jetzt sehe ich es. Dieser ganze Todeskult, dazu errichtet, Männern wie Euch zu dienen. Und die Leute machen einfach mit … folgen blind den schon millionenfach beschrittenen Pfaden.»
    Er lachte kurz auf, als ihm klarwurde, dass er gerade seinen Onkel Dorinbo zitiert hatte, und er sich vorstellte, wie der gucken würde. Langsam trat Bennosuke hinter Hayato. Auf der rasierten Kopfoberseite des Fürsten zitterten Wassertropfen in einer schimmernden Konstellation.
    «Was geschieht, wenn ein Mann da nicht mitmacht?», fragte Bennosuke. «Ich nehme an, das macht mich zu einem schlechten Samurai. Vermutlich bin ich damit gar kein Samurai mehr. Was also bin ich? Ich weiß es nicht, aber es ist mir auch herzlich egal. Ich bin am Leben. Und was Euch angeht, Hoheit, werde ich ewig leben.»
    Hayato schluchzte, schaffte es kaum, das Kurzschwert zu halten. Das Sternbild auf seinem Schädel zerlief, als er mit flehendem Blick den Kopf hob. Bennosuke klopfte ihm mit der flachen Seite seiner Schwertklinge auf den Bauch.
    «Na los», sagte er. «Los doch, Samurai.»

    Als es vollbracht war, wanderte Bennosuke das Bachbett hinauf und sah in den Himmel. Irgendwo dort hinter den Wolken weilte Amaterasu. Kleine Fische flitzten ihm um die Füße. Im Gras verborgen, sangen die Zikaden. Eine Schwalbe schwang sich ins Astwerk eines Baums, und Herbstlaub trudelte herab. Das Wasser floss, die Wolken zogen dahin – ewig, ewig. Es war alles unvollkommen und wunderbar. Tränen liefen ihm übers Gesicht, als ihm bewusst wurde, dass es vorbei war und dass er immer noch ein Teil all dessen war.
    Er zog sich die Panzerhandschuhe aus und betrachtete seine Hände, während sich eine Libelle, schwarz und jadegrün gesprenkelt, auf seinem Handgelenk niederließ.

Epilog
    W olken ballten sich zusammen, die Dunkelheit sank herab, und auf den mit Leichen übersäten Hängen von Sekigahara wurden große Scheiterhaufen entfacht, und sie erhellten die Gesichter der Toten wie der Lebenden. Ruhe hatten nur die Männer, die den Schlaf schliefen, aus dem es kein Erwachen gab. Die Abertausende, die noch am Leben waren, würden die Nacht hindurch schuften, denn ihr Herr, Fürst Tokugawa, wollte einen Turm errichten, dem großen Sieg zum Gedenken, den er am heutigen Tag errungen hatte.
    Und da es ihm an Steinen und Mörtel mangelte, nahm er stattdessen die Köpfe der Feinde.
    Es war ein Befehl, an dem nur das Ausmaß der Arbeit schaurig war, die er längst erschöpften Männern auflud. Andere Fürsten hatten schon weit kapriziösere und makabrere Zurschaustellungen ihrer Macht inszeniert, hatten die Feinde ihrer Augen, ihrer Hände oder ihrer Männlichkeit beraubt – oder gleich aller drei – und sie dann als verstümmelte wandelnde Mahnungen am Leben gelassen.
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