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Roman mit Kokain (German Edition)

Roman mit Kokain (German Edition)

Titel: Roman mit Kokain (German Edition)
Autoren: M. Agejew
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Menschenleben war und vielleicht sogar der Tod.
    Nach zwei Wochen, als die äußerlichen Symptome der Krankheit abgeklungen waren, ich aber sehr genau wusste, dass ich noch immer krank war, ging ich hinaus und wollte spazieren gehen oder ins Kino. Es war Abend, Mitte November – eine wunderbare Zeit. Der erste flauschige Schnee sank langsam auf Moskau herab, wie Marmorsplitter in tiefblauem Wasser. Die Dächer der Häuser und die Blumenrabatten der Boulevards waren zu himmelblauen Segeln aufgebläht. Die Hufe klapperten nicht, die Räder ratterten nicht, und das Klingeln der Straßenbahnen versetzte die verstummte Stadt in frühlingshafte Aufregung. In der Gasse, in der ich ging, holte ich ein vor mir laufendes Mädchen ein. Ich holte sie nicht ein, weil ich es wollte, sondern weil ich schneller ging als sie. Als ich auf gleicher Höhe war und sie überholen wollte, stolperte ich im tiefen Schnee; da schaute sie sich um, unsere Blicke trafen sich, und unsere Augen lächelten. An einem solch aufregenden Moskauer Abend, wenn der erste Schnee fällt, wenn die Wangen preiselbeerrot sind und die Leitungen am Himmel hängen wie silbergraue Taue, wo soll man an einem solchen Abend die Kraft und Trübseligkeit hernehmen, einfach wortlos weiterzugehen, um einander nie wiederzusehen?
    Ich fragte, wie sie heiße und wohin sie gehe. Sie hieß Sinotschka und ging «nirgendwohin » , sondern «nur so ». An der Ecke, zu der wir kamen, stand ein rassiges Pferd. Der Schlitten ragte hoch wie ein nach oben hin ausladendes Schnapsgläschen, das mächtige Tier war mit einer weißen Schabracke bedeckt. Ich schlug vor, damit spazieren zu fahren, und Sinotschka strahlte mich mit ihren Äuglein an, die Lippen wie ein Knöpfchen, kindlich immer wieder – ja, ja! – mit dem Kopf nickend. Der Kutscher saß seitlich zu uns, versunken im Vorderteil des Schlittens, das wie ein Fragezeichen gebogen war. Aber als wir uns ihm näherten, wurde er ein wenig wacher und stieß dann, uns mit den Augen folgend, als visierte er eine bewegliche Zielscheibe an, mit heiserer Stimme hervor: «Bitt’ schön, bitt’ schön, ich fahre Sie spazieren.» Als er sah, dass seine Worte getroffen hatten und er die Beute nur noch einsammeln musste, stieg er vom Schlitten – ohne Beine, grün und mächtig-monumental, mit weißen Handschuhen, so groß wie ein Kindskopf, und einem flachen Zylinder mit einer Schnalle, wie Onegin 1 – , kam zu uns und fügte hinzu : « Sie wünschen mit der Feurigen zu fahren, Euer Wohlgeboren.»
    Nun begann die Tortur. Bis zum Petrowskij-Park 2 und zurück in die Stadt verlangte er zehn Rubel, und obwohl « Euer Wohlgeboren» nur fünf Rubel und fünfzig Kopeken in der Tasche hatte, hätte ich nicht weiter darüber nachgedacht und wäre eingestiegen, denn in jenen Jahren war ich der Auffassung, dass jede Gaunerei eine kleinere Schande war, als in der Gegenwart einer Dame mit einem Kutscher verhandeln zu müssen. Aber Sinotschka rettete die Situation. Sie blickte empört und erklärte entschieden, dass der Preis ja wohl unerhört sei und ich es nicht wagen solle, ihm mehr als einen Grünen 3 zu geben. Dabei hielt sie mich an der Hand und zog mich fort. Sie zog mich weiter, aber ich sträubte mich beim Gehen ein wenig, als würde ich durch meinen Widerstand die ganze Peinlichkeit unserer Lage von mir auf Sinotschka übertragen. Es sah so aus, als könnte ich nichts dafür, denn ich wäre selbstverständlich bereit gewesen, jeden beliebigen Preis zu zahlen.
    Als wir ungefähr zwanzig Schritte gegangen waren, lugte Sinotschka mir mit diebischer Umsichtigkeit über die Schulter, und als sie sah, dass dem Pferd eilig die Decke abgenommen wurde, unterdrückte sie einen Freudenschrei, kam nah an mich heran, stellte sich vor mich auf die Zehenspitzen und flüsterte begeistert : « Er ist einverstanden, er ist einverstanden (sie klatschte lautlos in die Hände), gleich kommt er. Sehen Sie, wie klug ich bin (die ganze Zeit bemüht, mir in die Augen zu schauen), sehen Sie, nicht wahr, jawohl!»
    Dieses « jawohl!» klang mir sehr angenehm in den Ohren. Es sah so aus, als wäre ich ein eleganter Schwärmer, reich und verschwenderisch, während sie, das unglückliche und bettelarme Mädchen, mich bremste, zu viel auszugeben – natürlich nicht, weil diese Ausgaben meine Möglichkeiten überstiegen, sondern einzig, weil sie, die Unglückliche, im engen Horizont ihrer Armut nicht begreifen konnte, wie solche Verschwendungen überhaupt möglich
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