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Rom kann sehr heiss sein

Titel: Rom kann sehr heiss sein
Autoren: Henning Bo tius
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blieb stehen und lauschte. Das war keine Konserve. Da spielte jemand wirklich, spielte Bach, spielte ihn locker und leicht, fast wie Barmusik. Das Rauschen des Wassers trug die Klänge davon. Ich sah durch eines der Fenster in einen kahlen Raum mit einem Flügel. Vom Pianisten selbst sah ich nur die Hände, die hin und wieder am Ende einer Musikpassage über dem geöffneten Instrument erschienen wie Vögel mit weißem Gefieder.
    Um acht Uhr abends fand ich mich in dem Restaurant ein, das mir Doktor Gala als Treffpunkt genannt hatte. Er war schon da und sah mir entgegen, als ich meinen Mantel an der Garderobe aufhängte. Er hatte wirklich leuchtende Kinderaugen und eine durch und durch erfreulich skeptische Grundeinstellung zum hiesigen Leben, so wie er nun in diesem Lokal vor mir saß und ungläubig den Kopf schüttelte. »Ihre Freundin ist verschwunden? Ich hoffe, sie taucht bald wieder auf. Vermutlich eine kleine Reise, vielleicht ins Berner Oberland. Wir wollen nicht gleich das Schlimmste annehmen.«
    Er blickte mich lächelnd an aus seinen Kulleraugen und bestellte einen Pflümlischnaps zum Kaffee für jeden von uns. »Hoffen wir, dass Sie Ihre Freundin bald finden!«, sagte er. Wir tranken. Ich lehnte mich zurück, schloss die Augen und versuchte, mir Dale vorzustellen, was mir seltsamerweise nur unvollkommen gelang.
    »Hier, das wird Ihnen vielleicht weiterhelfen. Die Liste mit den Teilnehmern des italienischen Sprachkurses.« Gala reichte mir einen zerknitterten und wieder glatt gestrichenen Zettel. Ich las mit einem inneren Schauer Dales Namen, als sei dies die letzte Botschaft einer Toten. Als ich wieder aufsah, war das freundliche Gesicht meines Gegenübers zu einer Maske erstarrt. »Was meinen Sie zu dem Ganzen?«, sagte ich. »Haben Sie irgendeine Idee, eine Erklärung für das Verschwinden meiner Freundin?« Gala blickte auf die Tischdecke, steckte einen Finger in den Mund und begann, mit der feuchten Kuppe ein paar Zuckerkrümel aufzutupfen. »Nicht auszudenken, wenn ihr etwas zugestoßen sein sollte. Ein Unfall zum Beispiel. Vielleicht wollte sie über das Wehr gehen. Und dann... Entsetzlich! Wir haben jedes Jahr Unfälle dieser Art am Wehr.«
    Er rührte heftig in seinem schwarzen Kaffee herum, als sei dort ein Rätsel verborgen, das sich durch Strudel ans Licht bringen ließ. »Wissen Sie, Doktor Hieronymus, am Wehr sind schon viele umgekommen. Immer suchen Menschen die Herausforderung, übers Wehr zu gehen. Wir leben in einer schönen Stadt. Es geht uns gut, jedenfalls den meisten von uns. Und doch, es gibt hier so etwas wie einen depressiven Geist des Ortes. Eine seltsame Niedergedrücktheit auf höchstem Niveau, wie soll ich es beschreiben, vielleicht ist das Sterbegefühl eine typische Berner Variante des Lebensgefühls. Ich liebe diese Grundstimmung, andere mögen sie vielleicht nicht aushalten, aber mir gefällt sie, diese Sandsteinmelancholie. Sie ist nicht literarisch, sie ist eher physisch. Das erklärt übrigens auch unseren Ruf der Langsamkeit. Alles in Bern soll besonders langsam vor sich gehen, Handlungen, Gefühle, Gedanken. Ich finde allerdings, langsam ist nicht das richtige Wort. Es handelt sich eher um ein gewisses Nicht-so-schnell-sein-Können als Folge einer wunderbaren, dezenten, allgegenwärtigen Ziellosigkeit der Existenz. Für manche ist das Wehr die einzige Stelle, wo diese Ziellosigkeit beendet werden kann, weil das Ende hier so unbernerisch schnell ist.«
    Gala reichte plötzlich seine Hand über den Tisch und ergriff die meine. Er schüttelte sie fast übertrieben heftig und sagte: »Sie sind sehr nett, Doktor Hieronymus. Ich bin froh, Sie kennen gelernt zu haben. Ich verstehe, dass die Situation Sie sehr aufwühlt. Es wäre besser, Sie wären nicht in einem Hotel untergebracht.« Er blickte sich um. »Vielleicht kann ich Ihnen behilflich sein.«
    Er stand auf und ging an einen der anderen Tische. Dort saßen zwei ältere Damen, offensichtlich in ein sehr intensives Gespräch vertieft. Gala setzte sich zu ihnen, und eine Weile schien es mir, dass er mich vergessen hatte. Ich trank den sündhaft teuren, jedoch ausgezeichneten Schweizer Wein in kleinen Schlucken und gab mir Mühe, gelassen zu sein. Mir war klar, dass ich jegliche Form von Ungeduld derzeit unterdrücken musste.
    Plötzlich bemerkte ich, wie Doktor Gala mir ein Zeichen machte, so etwas wie ein dezentes Winken. Ich erhob mich und ging an den Tisch. Eine der beiden Damen stand ebenfalls auf und begrüßte mich
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