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Röslein rot

Röslein rot

Titel: Röslein rot
Autoren: Ingrid Noll
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Mensch ahnte, was er dort eigentlich trieb. Aber daß es hübsche Sekretärinnen und willige Praktikantinnen gab, war wohl keine Frage. Und ebenso sicher nahm Silvia an, daß ihr gutaussehender Udo nichts anbrennen ließ. Obwohl sie gelegentlich übertrieb, mochte sie in diesem Fall durchaus recht haben: Selbst mir hat er Avancen gemacht.
    Auch Reinhard hatte diesbezüglich keine schlechten Karten. Architekten bilden einen reizvollen Gegensatz zu Ehemännern im grauen Flanell, sie tragen Stiefel, Lederjacken, karierte Hemden, wehende Schals und strömen die Aura des Outdoor-Typs aus, obgleich sie die meiste Zeit in krummer Haltung über ihrem Reißbrett hängen.
    Und ich? Früher hatte ich mich einmal um unseren Hausarzt bemüht, das heißt, ich war unnötig oft mit dem kleinen Jost dort aufgekreuzt. Aber es ergab sich rein gar nichts. Eine meiner Freundinnen liebt ihren Pfarrer und engagiert sich in der Gemeindearbeit, Lucie eilt neuerdings auffallend oft zum Friseur - aber sie werden alle ebenso glücklos wie Silvia agieren, denn letzten Endes sind Mütter mit Kindern keine besonders begehrten Kandidatinnen. Abends können sie nicht weg, im Urlaub verreisen sie mit der Familie, und ins Bett trauen sie sich nur unter Gewissensbissen, Tränen und zu unromantischen Tageszeiten.

    Ich betrachte mein Mäusebild. Die Heimlichkeit hat es mir angetan, die kleinen Täuschungen, das Anschleichen. Lucie ist mir auch in dieser Hinsicht ähnlich. Sie spricht nicht viel über ihre Vergangenheit, aber ich habe den Verdacht, daß der Dreijährige nicht von Gottfried stammt. Ein seltsamer Junge, der kleine Moritz, sicher wird er noch Probleme machen. Als wir mit ihren vier und meinen zwei Kindern über die Kirmes bummelten, habe ich einmal überschlagen, wie viele Mütter und Väter insgesamt an dieser Schar beteiligt sein könnten. Etwa sechs?

Schlüsselerlebnis

    Vor meiner Ehe habe ich es mit vielen Männern versucht. Es wäre allerdings ein Trugschluß, wollte man mich deswegen für eine besonders triebhafte Frau halten. Eher war das Gegenteil der Fall. Ich wollte einfach nicht akzeptieren, daß mir Sex keinen Spaß machte; es mußte an den Männern liegen. Also habe ich einen nach dem anderen getestet.
    Reinhard ist die Schlüsselfigur, bei ihm kam der Durchbruch; erst später wurde mir die Ursache klar. Bisher war ich - weil es am praktischsten war - mit meinen Liebhabern ins Bett gegangen, bei Reinhard lag ich auf einem Baugerüst. Nicht daß ich einen gefährlichen Kitzel gebraucht hätte, um abzuheben, nein, die simple Tatsache war, daß ich keinen Mann im Bett erblicken konnte, ohne daß sich das Bild meines kranken Vaters einstellte. Ödipus hin oder her, die Vorstellung, mit meinem Papa zu schlafen, war für mich unerträglich.
    Doch seit den Tagen des Baugerüsts war ich Reinhard verfallen und konnte auch auf einer herkömmlichen Matratze glücklich werden.
    Nach zwei Jahren begann zwar meine Euphorie nachzulassen, aber unsere Ehe ging lange ganz gut. Erst seit dem Beginn seiner beruflichen Selbständigkeit wurde Reinhard von allerhand Verarmungsängsten geplagt. Die Aufträge tröpfelten kümmerlich, Ersparnisse waren nicht vorhanden. Wenn Rechnungen mit Verzögerung bezahlt wurden, ging uns finanziell die Puste aus. Mein Mann wurde Mitglied im teuersten Tennisklub, um solvente Kunden kennenzulernen.
    »Gottfried singt in einem sehr netten Chor«, empfahl Lucie, »da gibt es an die fünfzig Mitglieder...«
    Ich konnte nur lachen, wenn ich an Reinhards Stimme dachte. Sollte er sich bei einer Partei einschreiben, um vielleicht auf Empfehlung des Gemeinderats kommunale Bauten zu betreuen? Obwohl diese Praktik nie offen zugegeben wurde, munkelte man doch, daß sie funktioniere.
    Als er schließlich ein paar einigermaßen lukrative Aufträge an Land ziehen konnte, verwandelte er sich in einen gereizten, überarbeiteten Manager, der keine Zeit mehr für familiäre Belange übrig hatte. Der Begriff »delegieren« wurde zu seinem Lieblingswort. Ob es galt, Briefmarken zu kaufen oder seine Schuhe zum Besohlen zu bringen, mit den Kindern schwimmen zu gehen oder den Urlaub zu planen - ich war die Delegierte. Ganz zu schweigen davon, daß er von mir verlangte, außer der Sekretariatsarbeit noch die HOAI, die Honorarordnung für Architekten und Ingenieure, zu studieren und zu beherrschen.
    Selbst abends, wenn wir bei einem verspäteten Essen saßen, rief der schreckliche Herr Rost an. Helmut Rost war das Schreckgespenst aller
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