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Rittermord

Rittermord

Titel: Rittermord
Autoren: Edgar Noske
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Ich ging zu ihr, hob das Buch auf und reichte es ihr. ›Gloria von Jaxtberg oder die Prinzessin vom Pfandlhof‹ war der Titel. Das dazugehörige Bild zeigte ein verträumt dreinblickendes, blumenkauendes Schwein.
    »Ist die Geschichte gut?« fragte ich.
    Sie gab keine Antwort, starrte mich nur an. Ihre Augen waren die eines possierlichen Tierchens, groß und haselnußbraun.
    »Oder hast du’s noch gar nicht gelesen?«
    Ihre Gesichtszüge entspannten sich, aber sie sagte weiterhin keinen Ton. Dann schlug sie das Buch auf und fuhr mit dem Finger die Zeilen entlang. Sehr langsam, als sei ihr das Lesen ähnlich fremd wie das Reden. Ich wollte gerade weitergehen, als Schritte über den Kies heranhuschten.
    Die Frau, die auf mich zusteuerte, war klein-wenn sie eins sechzig maß, war’s viel – grauhaarig und hager. Sie trug ein altmodisch geschnittenes, langärmeliges, schwarzes Kleid, blickdichte schwarze Strümpfe und schwarze Schuhe mit flachen Absätzen. Im ersten Moment hielt ich sie für sechzig oder älter. Als sie vor mir stand, sah ich, daß sie keine vierzig war.
    »Ich hab Sie vom Fenster aus gesehen«, sagte sie, ein bißchen außer Atem. »Die Sophie spricht nicht.«
    »Das macht doch nichts«, sagte ich. »Kann sie denn hören?«
    »Sicher. Früher hat sie auch gesprochen. Ganz normal.« Die Frau rang ihre Hände, als sei es ihr peinlich, daß ich davon erfuhr.
    Erst jetzt sah ich, daß ihre Züge denen des Mädchens ähnelten. Sie hatte die gleichen Augen. Nur waren ihre stumpf, ohne Glanz.
    »Marianne Kalff«, sagte die Frau und streckte mir die Hand hin. »Ich führ der Frau Echternach den Haushalt. Sie sind der Sohn des alten Herrn Henschel, nicht wahr? Man sieht’s.«
    Ihre Hand war kalt wie ein Grab und fast ohne Fleisch.
    »Ich hoffe nicht«, sagte ich.
    »Doch, doch. Die Augen und der Mund. Ich hab ihren Vater gut gekannt. Ein feiner Herr.« Sie trat hinter den Rollstuhl und löste die Bremse. »Es ist Zeit zum Essen. Dann kommt auch schon mein Mann und holt das Kind. Möchten Sie auch einen Teller Suppe?«
    »Nein, danke.« Ich machte winke-winke. »Tschüß, Sophie.«
    Das Mädchen reagierte überhaupt nicht. Vielleicht war sie doch gehörlos, und ihre Mutter hatte es nur noch nicht bemerkt.
    Ich setzte mich auf die Bank und machte mich lang, weil ich dann mit den Füßen einen Sonnenfleck erreichte. So kühl es im Schatten war, so warm war’s in der Sonne. Ich schloß die Augen. Außer dem Wind und gelegentlichem Vogelgezwitscher herrschte absolute Stille.
    »Auf der Bank oben beim Kanonikerhaus säßen Sie komplett in der Sonne«, sagte plötzlich eine kernige Männerstimme.
    Ich klappte die Augen auf. Der Mann, zu dem die Stimme gehörte, hatte in etwa meine Größe und war kräftig, aber nicht dick. Das blonde Haar war unmodisch lang und hing ihm in Fransen ins Gesicht, dazu trug er einen Vollbart. Seine Augen waren hinter einer Sonnenbrille versteckt. Wo Haut zu sehen war, sah sie nach häufigem Aufenthalt im Freien aus. Bekleidet war er mit einer dreiviertellangen Wildlederhose mit Hosenträgern und einem karierten Hemd. Seine Füße steckten in derben Wanderschuhen und Wollstrümpfen, die so kratzig aussahen, daß mir unwillkürlich die Waden juckten.
    »Das ist Ihre Bank, und Sie wollen sie für sich allein haben«, sagte ich, und als er die Sonnenbrille auf die Stirn schob: »Sie kommen mir bekannt vor. Hab ich Sie mal verhaftet?«
    Er grinste. »Josef Deutsch, ich bin der Verlobte von Frau Echternach.«
    Gina und Josef, natürlich. Eine jener endlosen Verlobungen, die schon so lange währte, daß sie nicht mehr in einer Ehe enden würde. Zehn Jahre waren die beiden mindestens zusammen.
    »Jetzt weiß ich auch, wer Sie sind«, fuhr Deutsch fort. »Sie sind der Sohn vom alten Henschel, der Mann von der Kripo. Vor vier oder fünf Jahren sind wir uns mal begegnet.«
    Er sprach unnötig laut, als sei er in der Nähe eines Flughafens aufgewachsen. Aber vielleicht gehörte das auch zu seinem Naturburschenimage.
    »Stimmt«, sagte ich. »Sie sind der Bauer aus Nettersheim. Was machen die Rindviecher?«
    »Engelgau«, sagte er und setzte sich neben mich. Ich war auf eine Wolke Kuhstall gefaßt, aber er duftete nur nach Anisbonbons. »Aber der Hof ist passé. Ich betreibe jetzt einen Naturkostladen in Bad Münstereifel. Hat Gina Ihnen nichts davon erzählt?«
    »Wir hatten noch keine Gelegenheit, ausgiebig zu plaudern. Ich bin erst heute angekommen. Morgen hätte sie’s mir bestimmt
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