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Riesling zum Abschied

Riesling zum Abschied

Titel: Riesling zum Abschied
Autoren: P Grote
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sie und erinnerte sich daran, dass im Rheingau kaum noch eine Traube von Deutschen gelesen wurde. Die Weinlese war, wie das Spargelstechen, fest in polnischer Hand. Alle Arbeiten im Weinberg waren »outgesourct« und wurden seit Jahren von denselben Arbeitern ausgeführt. Bei dem Winzer, den sie zuletzt beraten hatte, waren es zwei Großfamilien aus einem polnischen Dorf, die sich mittlerweile zu Experten für Boden- und Laubarbeiten und die Lese entwickelt hatten. Aber mit der »Harmonisierung« der europäischen Sozialgesetze würde das vorbei sein. Würden dann die Deutschen wiederkommen und die Trauben auf dem Gebirgszug ihr gegenüber lesen?
    |29| Vom Fluss aus wirkte er mächtig, mitten drin das Niederwalddenkmal. Sie mochte das Denkmal nicht, die Germania mit Krone und Schwert, genauso wenig wie die anderen, mit denen Siege gefeiert wurden, denn es siegten immer nur wenige. Hundertachtzigtausend Männer waren im Deutsch-Französischen Krieg von 1871 gefallen. Wie sympathisch waren dagegen die Weinstöcke ringsum. Sie wusste von keinem Krieg, der um Weintrauben geführt worden war. Der Hang war zu zwei Dritteln bepflanzt, nur den Kamm bedeckte dichter Wald. Alles war mit Riesling bestockt. Die Terrassen begannen unten am Ufer an der Ruine von Burg Ehrenfels. Sie markierten die Stelle, wo der Fluss nach Norden abbog und das Mittelrheintal begann. Ein Zaun hatte sie bei ihrer letzten Wanderung gehindert, die Burg zu betreten, die jetzt Wanderfalken als Heimstatt diente. Ob man den Zaun abreißen würde, wenn die Falken weiterwanderten?
    Der Weinberg darüber war der Schlossberg, mit siebzig Prozent Steigung die steilste Lage im Rheingau, wie sie von einem ihrer Studenten erfahren hatte. Der Boden bestand aus Schiefer und Taunusquarzit. Angeblich fand sich das im Weingeschmack wieder, doch das zu beurteilen, fühlte sie sich außer Stande. An den Wein hatte Carl sie herangeführt, aber bevor sie wieder über ihre Beziehung ins Grübeln geriet, schüttelte sie die Gedanken ab.
    An den Schlossberg grenzte der Rottland, groß stand sein Name in weißen Lettern inmitten der Reben, so wie Hollywood über der U S-Filmstadt . Darüber lag der Berg Roseneck, nur der Drachenstein reichte noch höher hinauf. Hier wurde das Terrain flacher, der Boden anders, wie ihr der Student erklärt hatte, tiefgründiger, er setzte sich aus Löss und Lehm zusammen, womit er auch mehr Wasser zurückhalten konnte. Die Bodenbeschaffenheit wiederum führte beim Wein zu einem reicheren Körper und ausgeprägten und vielseitigen Aromen. So bewusst, um dieses Urteil zu bestätigen, hatte sie Wein noch nie probiert. Vielleicht sollte |30| sie mit ihren Studenten zusammen an der Vorlesung für Sensorik teilnehmen? Einen Riesling zu jedem Bodentyp probieren und dazu vielleicht noch eine Bodenprobe vor sich liegen haben, die Auskunft über Beschaffenheit, Struktur, Farbe und Körnung gab? Durch ihre Arbeit tauchte sie immer tiefer in das Thema ein, obwohl ihr doch eigentlich die technischen und physikalischen Prozesse wichtig waren. Schaden würde das auf keinen Fall, und ein klares Urteil zum Wein würde ihr Ansehen bei den Winzern sicher steigern. Ihre Arbeit hatte sie bisher weniger unter dem Gesichtspunkt des Genusses und des Gefühls betrachtet. Dabei gab es kaum einen Wirtschaftsbereich wie den Weinbau, der so mit Emotionen verknüpft, ja oft sogar von unerträglichem Getue begleitet war, das sonst nur um Sterne-Köche und T V-Sternchen gemacht wurde.
    Bei dem Gedanken an den Weißwein, den sie gestern Abend auf dem winzigen Balkon ihrer Binger Wohnung getrunken hatte, hob sie den Kopf und sah wieder hinauf zum Berg, der sich östlich von Rüdesheim zum Wald hin abflachte. Davor stand die Abtei St. Hildegard, ein mächtiges, graubraunes neo-romanisches Bauwerk, in seiner Schwere und Düsternis wenig anheimelnd, geschweige denn vertrauenerweckend. Obwohl die historische Hildegard von Bingen eine bemerkenswerte Person gewesen sein mochte (nirgends wurde so viel gelogen wie in Biographien und in der Politik), empfand sich Johanna viel zu sehr der Welt zugewandt, um sich auf Religionen einzulassen. Sie war der Wissenschaft verhaftet, und sie glaubte, was sie mit eigenen Augen sah und selbst erlebte.
    Bevor sie zu ihrem Wagen zurückging, schaute Johanna noch einmal wehmütig auf das Wasser. Im letzten Herbst war sie bei Sturm mit ihrem Surfboard zwischen Oestrich-Winkel und Walluf über die aufgewühlten Fluten geglitten – weggeweht und
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