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Retra – Insel der Schatten: Roman (German Edition)

Retra – Insel der Schatten: Roman (German Edition)

Titel: Retra – Insel der Schatten: Roman (German Edition)
Autoren: Marianne de Pierres
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ineinander und bildeten dunstige Regenbögen in der Nacht.
    »Sind das Luftschiffe?«, fragte sie verständnislos. »Oder Levia-Fliegen? Ich habe gehört, dass sie hierhin abwandern.«
    Er lachte. »Das sind die Clubs. Sie wurden in die Klippen gebaut.« Er stieß einen bewundernden Pfiff aus. »Das muss aber ein großer Krater sein.«
    Sie drehte sich zu ihm um und sah ihn fragend an.
    Er streckte die Brust heraus, offenbar erfreut darüber, dass er mehr wusste als sie. »Die Insel ist die Spitze eines Vulkans. Ist eines Tages einfach an die Meeresoberfläche gestiegen. Vor langer Zeit, noch bevor die Ältesten nach Grave kamen.«
    »Die Ältesten wollten von Neuem anfangen und eine bessere Gesellschaft aufbauen, deswegen haben sie das alte Land verlassen«, sagte sie daraufhin automatisch. »Im alten Land gab es keine Regeln, und Technologie war ein böser Gott.«
    »Vielleicht«, sagte Rollo. »Wenn man glaubt, was uns im Geschichtsunterricht erzählt wird.«
    Verblüfft starrte Retra ihn an. »Glaubst du es denn nicht?«
    Rollo zuckte die Achseln. »Das ist nur eine Version.«
    »Was meinst du damit?«
    »Na ja, nimm zum Beispiel diese Insel. Manche glaubten, es wäre ein heiliger Ort, als er sich aus dem Meer erhob. Damals, als es noch Tag und Nacht gab. Mönche aus zahlreichen Provinzen kamen hierher und bauten Kirchen. Sie versuchten, einander zu übertreffen und Gott zu beeindrucken. Aber Gott fand nicht gut, was sie taten, und nahm ihnen das Licht.«
    Retra schwieg, weil sie die Geschichte nicht unterbrechen wollte, indem sie ihn fragte, was eine Provinz war oder woher er das alles wusste.
    »Eine andere Version lautet, dass die umliegenden Provinzen Anspruch auf Ixion erhoben und sich deswegen bekriegten. Jedes Mal, wenn eine von ihnen eine Schlacht gewann, bauten sie ihre eigene heilige Stätte. Dann kam irgendwann ein anderer und griff sie deswegen an, übernahm das Land und errichtete wieder eine Kirche. Man sagt, es hätte so viele Tote gegeben, dass der Himmel seine Farbe verlor.«
    »Kann das denn passieren?« Retra glaubte nicht daran, doch sie lauschte wie gebannt.
    »Keine Ahnung. Ich finde, es hört sich ziemlich dämlich an. Was auch immer passiert sein mag, auf jeden Fall sind die Mönche, die früher in den Kirchen gelebt haben, verschwunden.«
    »Wie konnten sie einfach verschwinden?«
    »Vielleicht haben Dämonen sie geholt.« Als er eine schreckliche Grimasse zog, hätte sie ihn am liebsten angeschnauzt.
    »So was nimmt man nicht auf die leichte Schulter«, sagte sie streng.
    »Ihr Seals nehmt alles viel zu ernst.«
    »Woher weißt du, dass ich eine Seal bin?«
    »Das ist doch leicht. Seals bekommen nicht viel beigebracht. Eure Ältesten halten es für gefährlich, und der Rat findet es gut so. Außerdem hast du diesen Blick. Du siehst immer zu Boden. In Grave Nord sind die Mädchen nicht so schüchtern. Sie sehen einen an, wenn man mit ihnen spricht.« Er streckte ihr seine Handfläche entgegen und zog mit dem Finger unsichtbare Linien darauf. »Das ist Ixion. Die Fähre legt an der tieferen, mit Wasser bedeckten Seite des Kraters an, und die Clubs sind überall in die Klippen an der höher gelegenen Seite gebaut.«
    »Wie kommt man da hoch?«
    Er nahm ihre Hand. »Keine Ahnung. Finden wir es heraus.«

4
    Während sie langsam weitergingen, wurden sie immer wieder von anderen Neuankömmlingen überholt; manche waren so aufgeregt, dass sie rannten.
    Retra spürte die Verlockung der nächtlichen Regenbogen ebenso wie das unsichtbare Biest, das neben dem Pfad lauerte. Bedächtig und vorsichtig bewegte sie sich zwischen den widerstreitenden Kräften von Schönheit und Gefahr. Beim Anblick der bunten Regenbögen überliefen sie Schauder freudiger Erwartung, doch im gleichen Augenblick wurde sie von den Schatten längs des Pfades angezogen, von dem Scharren und dem Fäulnisgeruch.
    »Was ist los mit dir?«, fragte Rollo.
    »Die Riper. Sie machen mir ein bisschen Angst.«
    Er lachte. »Das sollen sie auch. So kontrolliert man die Menge. Das ist nur mentale Einschüchterung.«
    »Glaubst du?«
    Aber Rollo hörte ihr nicht zu. »Sieh mal, hier ist die Antwort auf deine Frage. Das erklärt den Streifen in der Mitte.«
    Vor ihnen hing eine altertümliche Gondel mit dunkel glänzenden, verzierten Metallbeschlägen und Holzverkleidung neben dem gepflasterten Bahnsteig einer Station. Die Gondel war an einem smaragdgrün leuchtenden Kabel befestigt, das sich in die Nacht erstreckte, die Seite des Kraters
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