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Requiem (Amor-Trilogie) (German Edition)

Requiem (Amor-Trilogie) (German Edition)

Titel: Requiem (Amor-Trilogie) (German Edition)
Autoren: Lauren Oliver
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verkneift.
    Er gibt mir Zeit. Er ist geduldig und sanft.
    »Du siehst schön aus in diesem Licht«, sagt er.
    »Ich glaube, du wirst blind.« Es soll ein Witz sein, aber meine Stimme klingt barsch.
    Julian schüttelt stirnrunzelnd den Kopf und wendet den Blick ab. Das leuchtend gelbe Blatt steckt immer noch zwischen seinen Haaren, hinter dem Ohr. Ich sehne mich danach, die Hand auszustrecken, es wegzunehmen, mit den Fingern durch seine Haare zu fahren und mit ihm darüber zu lachen. Das ist die Wildnis , würde ich sagen. Hättest du das je gedacht? Und er würde meine Hand in seine nehmen und sie drücken. Dann würde er sagen: Was würde ich nur ohne dich machen?
    Aber ich kann mich nicht dazu durchringen, die Hand zu heben. »Du hast ein Blatt in den Haaren.«
    »Ein was?« Julian sieht erschrocken aus, als hätte ich ihn aus einem Traum geweckt.
    »Ein Blatt. In deinen Haaren.«
    Er fährt sich ungeduldig mit der Hand durchs Haar. »Lena, ich …«
    Peng.
    Wir zucken beide zusammen, als ein Schuss fällt. Hinter Julian fliegen Vögel aus den Bäumen auf und verdunkeln den Himmel, bevor einzelne Umrisse zu erkennen sind. »Mist«, sagt jemand.
    Zwischen den Bäumen hinter den Zelten erscheinen Dani und Alex. Sie haben Gewehre über der Schulter. Gordo steht auf.
    »Ein Hirsch?«, fragt er. Das Tageslicht ist fast vollständig erloschen. Alex’ Haare sehen beinahe schwarz aus.
    »Zu riesig für einen Hirsch«, sagt Dani. Sie ist groß und hat ausladende Schultern, eine breite flache Stirn und Mandelaugen. Sie erinnert mich an Miyako, die gestorben ist, bevor wir letzten Winter Richtung Süden aufgebrochen sind. Wir haben ihren Leichnam an einem eisigen Tag verbrannt, kurz bevor der erste Schnee fiel.
    »Ein Bär?«, fragt Gordo.
    »Könnte sein«, entgegnet Dani knapp. Dani ist härter als Miyako, die Wildnis hat sie gestählt.
    »Hast du ihn erwischt?«, frage ich übereifrig, obwohl ich die Antwort bereits kenne. Aber ich will, dass Alex mich ansieht, mit mir spricht.
    »Hab ihn vielleicht gestreift«, sagt Dani. »Schwer zu sagen. Auf jeden Fall ist er abgehauen.«
    Alex sagt nichts, nimmt meine Anwesenheit noch nicht einmal wahr. Er geht weiter, schlängelt sich zwischen den Zelten hindurch und an Julian und mir vorbei, so nah, dass ich mir einbilde, ihn riechen zu können – den vertrauten Geruch nach Gras und sonnengetrocknetem Holz, ein Geruch aus Portland, bei dem ich aufschreien will, mein Gesicht an seine Brust schmiegen und tief einatmen.
    Dann geht er oberhalb der Böschung entlang, als Ravens Stimme zu uns durchdringt: »Essen ist fertig. Wer nicht kommt, kriegt nichts ab.«
    »Komm.« Julian streicht mit den Fingerspitzen über meinen Arm. Sanft, geduldig.
    Meine Füße drehen mich um und tragen mich die Böschung hinunter auf das Feuer zu, das jetzt heiß und kräftig brennt; auf den Jungen zu, der daneben zu einem Schatten wird, vom Rauch verhüllt. Das ist Alex jetzt: ein Schatten, eine Illusion.
    Seit drei Tagen hat er nicht mit mir gesprochen, mich noch nicht einmal angesehen.

hana
    W
ill jemand mein dunkelstes Geheimnis erfahren? In der Sonntagsschule habe ich bei den Tests immer abgeschrieben.
    Ich konnte nie viel mit dem Buch Psst anfangen, noch nicht mal als Kind. Das einzige Kapitel, das mich überhaupt interessierte, war »Legenden und Klagen«, das voller Märchen über die Welt vor dem Heilmittel ist. Meine Lieblingsgeschichte, die Geschichte von Salomo, geht so:
    Es waren einmal zur Zeit der Krankheit zwei Frauen, die mit einem Säugling zum König kamen. Beide Frauen behaupteten, der Säugling sei der ihre. Beide weigerten sich, der anderen Frau das Kind zu überlassen, und traten leidenschaftlich für ihre Sache ein. Jede sagte, sie würde vor Kummer sterben, wenn das Baby nicht ihr zurückgegeben werde.
    Der König namens Salomo hörte sich die Reden der beiden Frauen an und verkündete schließlich, er habe eine gerechte Lösung gefunden.
    »Wir werden das Kind in zwei Hälften teilen«, sagte er, »und so bekommt jede von euch einen Teil.«
    Den Frauen erschien das gerecht und so kam der Henker und teilte das Baby mit einer Axt sauber mitten durch.
    Und das Baby weinte nicht, es gab nicht das geringste Geräusch von sich, und die Mütter sahen zu, und anschließend war tausend Jahre lang ein Blutfleck auf dem Boden des Palasts, der mit keinem Mittel der Welt entfernt oder aufgehellt werden konnte …
    Ich glaube, ich war erst acht oder neun, als ich diesen Abschnitt zum ersten
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