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Requiem (Amor-Trilogie) (German Edition)

Requiem (Amor-Trilogie) (German Edition)

Titel: Requiem (Amor-Trilogie) (German Edition)
Autoren: Lauren Oliver
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Mal las, aber er beeindruckte mich tief. Tagelang bekam ich das Bild des armen Babys nicht aus dem Kopf. Ich stellte mir immer wieder vor, wie es aufgeschnitten auf den Fliesen lag wie ein aufgespießter Schmetterling hinter Glas.
    Das ist das Tolle an der Geschichte. Sie ist wahr. Ich meine damit, selbst wenn sie nicht wirklich passiert ist – und es gibt durchaus Kontroversen über das Kapitel »Legenden und Klagen« und darüber, ob es historisch korrekt ist –, ist sie ein wahrhaftiges Abbild der Welt. Ich weiß noch, dass ich mich genauso gefühlt habe wie dieses Baby: hin und her gerissen, gespalten, gefangen zwischen Loyalität und meinen eigenen Wünschen.
    So ist die Welt der Krankheit.
    So war es auch für mich, bevor ich geheilt wurde.
    In genau einundzwanzig Tagen werde ich verheiratet sein.
    Meine Mutter sieht aus, als würde sie gleich in Tränen ausbrechen, und ich hoffe beinahe, dass sie es tut. Ich habe sie in meinem ganzen Leben erst zweimal weinen sehen: einmal, als sie sich den Knöchel brach, und einmal letztes Jahr, als sie aus dem Haus trat und feststellen musste, dass Demonstranten über unser Gartentor geklettert waren, unseren Rasen zerwühlt und ihr schönes Auto demoliert hatten.
    Aber schließlich sagt sie nur: »Du siehst wunderschön aus, Hana.« Und dann: »Aber an der Taille ist es ein bisschen zu weit.«
    Mrs Killegan – Nennen Sie mich Anne , hatte sie affektiert gesagt, als wir das erste Mal zur Anprobe kamen – umkreist mich langsam, steckt fest und zupft zurecht. Sie ist groß, hat matte blonde Haare und eine verkniffene Miene, als hätte sie über die Jahre versehentlich diverse Steck- und Nähnadeln verschluckt. »Sind Sie sicher, dass es bei den angeschnittenen Ärmeln bleiben soll?«
    »Ja, ich bin sicher«, antworte ich, während meine Mutter gleichzeitig fragt: »Finden Sie, dass sie darin zu jung aussieht?«
    Mrs Killegan – Anne – gestikuliert ausdrucksvoll mit einer langen, knochigen Hand. »Die ganze Stadt wird zusehen«, sagt sie.
    »Das ganze Land«, verbessert meine Mutter sie.
    »Ich finde die Ärmel schön«, sage ich und füge beinahe hinzu: Es ist schließlich meine Hochzeit. Aber das stimmt nicht mehr – nicht seit den Zwischenfällen im Januar und Bürgermeister Hargroves Tod. Jetzt gehört meine Hochzeit dem Volk. Das erklären mir seit Wochen alle. Gestern hat uns die staatliche Nachrichtenagentur angerufen, um zu fragen, ob sie Bildmaterial der Hochzeit senden oder ein eigenes Fernsehteam schicken dürften, um die Zeremonie zu filmen.
    Das Land braucht jetzt Symbole – mehr denn je.
    Wir stehen vor einem dreiteiligen Spiegel; das Stirnrunzeln meiner Mutter wird aus verschiedenen Winkeln reflektiert. »Mrs Killegan hat Recht«, sagt sie und berührt mich am Arm. »Lass uns mal ausprobieren, wie es mit dreiviertellangen Ärmeln aussieht, okay?«
    Ich hüte mich, mit ihr zu diskutieren. Drei Spiegelbilder nicken gleichzeitig; drei identische Mädchen mit geflochtenem, blondem Haar in drei identischen weißen bodenlangen Kleidern. Ich erkenne mich selbst kaum wieder. Das Kleid und die hellen Lichter im Ankleidezimmer haben mich verwandelt. Mein ganzes Leben lang war ich Hana Tate.
    Aber das Mädchen dort im Spiegel ist nicht Hana Tate. Das ist Hana Hargrove, die zukünftige Frau des zukünftigen Bürgermeisters und ein Symbol für alles, was an der geheilten Welt richtig ist.
    Ein Pfad und ein Weg für alle.
    »Ich schaue mal, was ich noch hinten habe«, sagt Mrs Killegan. »Wir ziehen Ihnen mal was ganz anderes an, damit Sie einen Vergleich haben.« Sie gleitet über den abgewetzten grauen Teppich und verschwindet im Lager. Durch die offene Tür sehe ich Dutzende in Plastikfolien gehüllte Kleider, die ordentlich an Stangen hängen.
    Meine Mutter seufzt. Wir sind jetzt schon seit zwei Stunden hier und ich komme mir langsam vor wie eine Vogelscheuche: ausgestopft, zurechtgeknufft, zusammengenäht. Meine Mutter sitzt auf einer ausgeblichenen Fußbank neben den Spiegeln und hält ihre Handtasche steif im Schoß, damit sie nicht mit dem Teppich in Kontakt kommt.
    Mrs Killegans Laden war immer die beste Adresse für Hochzeitskleider in ganz Portland, aber auch hier machen sich die Nachwirkungen der Zwischenfälle und die daraufhin verschärften Sicherheitsmaßnahmen bemerkbar. Das Geld ist bei fast allen knapp und das sieht man. Eine Glühbirne der Deckenlampen ist durchgebrannt und der Laden riecht muffig, als wäre hier in letzter Zeit nicht
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