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Requiem (Amor-Trilogie) (German Edition)

Requiem (Amor-Trilogie) (German Edition)

Titel: Requiem (Amor-Trilogie) (German Edition)
Autoren: Lauren Oliver
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kooperieren, um die Krankheit einzudämmen und sicherzustellen, dass das Gebiet baldmöglichst abgeriegelt, gesäubert und desinfiziert wird. Es gibt keinerlei Anlass, weitere Ansteckung zu befürchten …‹«
    »Das reicht«, sagt meine Mutter unvermittelt und lehnt sich zurück. »Ich kann mir das nicht länger anhören.«
    Tony dreht wieder am Radio herum. Auf den meisten Sendern hört man nur Rauschen. Letzten Monat sorgte die Entdeckung der Regierung, dass diverse Wellenlängen von den Invaliden gekapert worden waren, für Schlagzeilen. Es war gelungen, kritische Botschaften abzufangen und zu entschlüsseln, was zu einer erfolgreichen Razzia in Chicago und der Festnahme eines halben Dutzends führender Invaliden geführt hatte. Einer von ihnen war verantwortlich für die Planung des Anschlags in Washington D.C. letzten Herbst, bei dem siebenundzwanzig Menschen, darunter eine Mutter und ein Kind, getötet worden waren.
    Ich war froh, als die Invaliden hingerichtet wurden.
    Einige Leute waren der Meinung, dass die Giftspritze zu human für verurteilte Terroristen sei, aber ich fand, dass man damit eine mächtige Botschaft aussandte: Nicht wir sind die Bösen. Wir sind vernünftig und nachsichtig. Wir stehen für Gerechtigkeit, Struktur und Organisation. Es sind die anderen, die Ungeheilten, die für Chaos sorgen.
    »Das ist wirklich abstoßend«, sagt meine Mutter. »Wenn wir gleich bombardiert hätten, als die Probleme … Tony, passen Sie auf!«
    Tony steigt auf die Bremse. Die Reifen quietschen. Ich werde nach vorn geschleudert und knalle fast mit der Stirn gegen die vordere Kopfstütze, als mich der Sicherheitsgurt zurückreißt. Ein dumpfes Geräusch ist zu hören. Es riecht nach verbranntem Gummi.
    »Scheiße«, sagt meine Mutter. »Scheiße. Was um Gottes willen …?«
    »Tut mir leid, Madam, ich hab sie nicht gesehen. Sie kam plötzlich zwischen den Müllcontainern da vorne …«
    Ein Mädchen steht vor dem Auto, die Hände flach auf der Motorhaube. Ihre Haare umschließen ihr dünnes, schmales Gesicht wie ein Zelt und ihre Augen sind vor Entsetzen weit aufgerissen. Sie kommt mir bekannt vor.
    Tony fährt das Seitenfenster herunter. Der Gestank der Müllcontainer – von denen mehrere nebeneinanderstehen – dringt in den Wagen, süßlich und verfault. Meine Mutter hustet und hält sich die Hand vor die Nase.
    »Alles in Ordnung?«, ruft Tony und streckt den Kopf aus dem Fenster.
    Das Mädchen antwortet nicht. Sie atmet heftig, hyperventiliert beinahe. Ihr Blick huscht von Tony zu meiner Mutter auf der Rückbank und dann zu mir. Ein Schreck durchfährt mich.
    Jenny. Lenas Großcousine. Ich habe sie seit dem letzten Sommer nicht mehr gesehen, und sie ist inzwischen viel dünner. Sie sieht auch deutlich älter aus. Aber es ist zweifellos Jenny. Ich erkenne die Art, wie sie die Nasenflügel bläht, ihr stolzes spitzes Kinn und die Augen.
    Mir ist klar, dass sie mich auch erkannt hat. Bevor ich etwas sagen kann, nimmt sie mit einem Ruck die Hände von der Motorhaube und flitzt über die Straße. Sie trägt einen schäbigen Rucksack mit Tintenflecken, den ich als Lenas alten erkenne. Auf einer der Seitentaschen stehen in schwarzen runden Buchstaben zwei Namen: Lenas und meiner. Wir haben sie in der siebten Klasse auf ihre Tasche geschrieben, als uns im Unterricht langweilig war. An jenem Tag erfanden wir unser kleines Codewort, unseren Anfeuerspruch, den wir uns später bei Crosslaufwettkämpfen immer zuriefen. Halena . Eine Kombination aus unseren beiden Namen.
    »Um Himmels willen. Man sollte meinen, dass das Mädchen alt genug ist, um zu wissen, dass man nicht einfach so ohne zu gucken auf die Straße rennt. Ich hätte beinahe einen Herzinfarkt bekommen.«
    »Ich kenne sie«, sage ich automatisch. Ich habe das Bild von Jennys großen dunklen Augen und ihrem blassen Skelettgesicht immer noch im Kopf.
    »Was soll das heißen, du kennst sie?« Meine Mutter dreht sich zu mir um.
    Ich schließe die Augen und versuche an friedliche Dinge zu denken. An die Bucht. An Möwen, die am blauen Himmel kreisen. An Ströme aus makellosem weißen Stoff. Aber stattdessen sehe ich Jennys Augen, die scharfen Kanten ihrer Wangen und ihres Kinns. »Das war Jenny«, sage ich. »Lenas Großcousine …«
    »Pass auf, was du sagst«, unterbricht mich meine Mutter scharf. Mir wird zu spät klar, dass ich den Mund hätte halten sollen. Lenas Name ist in unserer Familie schlimmer als ein Fluch.
    Jahrelang war Mom stolz auf meine
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