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Reptilia

Reptilia

Titel: Reptilia
Autoren: Thomas Thiemeyer
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Dollar ausschlug, nur um seine Rachegelüste zu befriedigen? Nicht gerade professionell, diese Einstellung.
    Ich ging ins Bad, rasierte mich, wusch mir die Haare und zog mich wieder an. Als ich vor dem Spiegel stand und den Sitz meiner Krawatte ein letztes Mal überprüfte, stellte ich fest, wie sehr ich darauf brannte zu erfahren, was mit Emily geschehen war. Lady Palmbridge hatte uns versprochen, das Geheimnis ihrer Einladung nach dem Dinner zu lüften, und ich hoffte bei dieser Gelegenheit auch etwas über Emilys Verbleib zu erfahren. Wie sie jetzt wohl aussah? Vielleicht war sie in den zwanzig Jahren, in denen ich sie nicht gesehen hatte, dick und hässlich geworden? Nein, das war unwahrscheinlich. Schließlich hatte Hiller mit Bewunderung von ihr gesprochen. Sicher war sie immer noch genauso zauberhaft wie früher.
    Ich ging zum Fenster und öffnete es. Eine milde Abendbrise trug den Geruch von Seeluft ins Zimmer. Unter meinem Fenster erstreckten sich ein Pinienhain und ein gepflegter Rasen bis zur Felsklippe, hinter der ich das Donnern der Brandung vernahm. In der Ferne hörte ich das Bellen von Seelöwen.
    Ich straffte mich und schloss das Fenster. Es war Zeit zu gehen. Aston empfing mich am Treppenabsatz und geleitete mich in den Speisesaal. Links von uns hörte ich das Klappern von Töpfen und Pfannen, und der köstliche Geruch von gebratenem Fleisch stieg mir in die Nase. Himmel, war ich hungrig.
    Der Butler öffnete die Tür, und die Ernüchterung holte mich rasch auf den Boden der Tatsachen zurück. Ich war der Erste. »Ich muss Sie leider für einen Moment allein lassen, um die anderen Gäste zu empfangen«, sagte der Butler. »Bitte bedienen Sie sich mit einem Aperitif, wenn Sie möchten.« Er verschwand mit einem Ausdruck im Gesicht, als befürchtete er, ich würde das Tafelsilber stehlen. Falsches Timing, dachte ich, typisch für mich. Andererseits hatte ich dadurch Gelegenheit, den prächtigen Saal näher in Augenschein zu nehmen. Er war, wie es in englischen Adelshäusern üblich war, über und über mit Jagdtrophäen dekoriert. Zwischen einem ausgestopften Auerhahn und dem Kopf eines Keilers entdeckte ich einen hölzernen Langbogen nebst Köcher und Pfeilen mit Raubvogelfedern. Wundervoll gearbeitet und mit Sicherheit wertvoll. Verschiedene Blankwaffen wie Saufedern, Rapiere und Bastardschwerter wechselten mit kunstvoll verzierten Vorderladern. Alles in allem ein Streifzug durch die Waffenkammern der Geschichte, wie es die Engländer liebten. Nur mit dem Unterschied, dass diese Exponate dem Tower of London zur Ehre gereicht hätten. Was mich allerdings mehr faszinierte als alle Waffen, war das Gemälde über dem Kamin. Ein echter Turner, wie ich selbst aus fünf Metern Entfernung erkennen konnte. Es zeigte ein prächtiges weißes Segelschiff, das von einem dunklen Schleppkahn ins Dock gezogen wird. Die Szene badete in dem für Turner so typischen dunstigen Abendrot. Beim Näherkommen entdeckte ich ein kleines Messingschild auf dem Rahmen. Fighting Téméraire , war dort zu lesen, Joseph William Turner 1838 . Auf dem Kaminsims darunter standen einige gerahmte Fotografien von Palmbridge und seiner Familie. Mein Herz machte einen Sprung, als ich eine Großaufnahme von Emily entdeckte, auf der sie fröhlich in die Kamera winkte. Sie musste auf dieser Aufnahme etwa fünfundzwanzig Jahre alt sein und sah ganz anders aus, als ich sie mir vorgestellt hatte. Ihre blonden Haare waren kurz und modisch geschnitten. Ich trat so nahe an das Bild heran, dass meine Nasenspitze es fast berührte. Ihr rundliches Gesicht hatte sich gestreckt, wobei besonders die Nase, die früher klein und stupsig war, hervorstach. Ihr Mund war voll und geschwungen, und ihre Augen schienen voller Tatendrang zu leuchten. In ihnen glaubte ich die Emily meiner Jugendzeit wiederzuentdecken. Ihre ganze Erscheinung sprühte vor Energie und Abenteuerlust. Und plötzlich, als habe jemand ein magisches Tuch zur Seite gezogen, waren die Erinnerungen wieder da. Ich konnte ihre Stimme hören, ihr glockenhelles Lachen und ihren Gesang. Ich erinnerte mich an den Tag, an dem wir beide, nachdem uns unsere Musiklehrerin Mrs. Vonnegut für unseren mangelhaften Fleiß getadelt hatte, im Garten wiederfanden, versteckt hinter dem gewaltigen Holunderbusch, in dem Emily ihre Hütte gebaut hatte. Wir waren einfach weggelaufen und hatten die zeternde und keifende Lehrerin stehen lassen. Es war der Tag gewesen, an dem Emily zum ersten Mal davon gesprochen
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