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Reptilia

Reptilia

Titel: Reptilia
Autoren: Thomas Thiemeyer
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hatte, abzuhauen. Irgendwohin, egal wohin, nur weg von zu Hause. Die Größe des Hauses bedrücke sie, hatte sie mir gestanden. Es war so einsam und leer, besonders in der Nacht. Wenn ich da war, sei es anders, doch kaum schlösse sich die Tür hinter mir, wäre das Gefühl wieder da. Dann sei es, als würden die Wände auseinander streben und ein Vakuum hinterlassen, das immer kälter und kälter würde. Ich hatte versucht sie zu trösten, doch ohne erkennbaren Erfolg. Ich erinnerte mich, dass sie mir lange und intensiv in die Augen geblickt hatte, und was sie dort sah, schien sie zufrieden zu stellen.
    »Hast du eigentlich schon mal ein Mädchen geküsst?« Die Frage traf mich wie ein Blitzschlag. Sie kam einfach so, aus heiterem Himmel. Ich erinnerte mich, wie heiß mir damals wurde, und das lag nicht an der Maisonne, die auf uns herabstach. Natürlich hatte ich noch nie ein Mädchen geküsst, wie auch. Doch das einzugestehen war mir schwer gefallen. Anstatt zu antworten, hatte ich nur stumm den Kopf geschüttelt.
    »Möchtest du gerne?«
    Ich konnte mich nicht erinnern, ob ich die Frage verneint oder bejaht hatte. Wahrscheinlich hatte ich nur stumm dagesessen, völlig gelähmt, wie die Maus vor der Katze, und hatte abgewartet. Emily hatte mich prüfend angesehen, und dann, noch ehe ich aufstehen und wegrennen konnte, hatte sie ihre Lippen auf meinen Mund gedrückt. Ich erinnerte mich an diesen ersten Kuss, als hätte ich ihn erst gestern erhalten. Es war ein Gefühl gewesen, als regneten tausend Sterne auf mich herab. Niemals, nicht in tausend Jahren, würde ich diesen Augenblick vergessen.
    Ich seufzte.
    »Ist sie nicht wundervoll?«, erklang Lady Palmbridges Stimme neben meinem Ohr. Ich zuckte zurück, denn ich hatte sie nicht kommen gehört.
    »Verzeihen Sie, ich wollte sie nicht erschrecken, aber sie waren so versunken in die Bilder, dass sie mein Kommen wohl gar nicht bemerkt haben.«
    »Ich habe gerade eine kleine Zeitreise in die Vergangenheit unternommen«, gestand ich freimütig.
    »Oh, das Gefühl kenne ich«, lächelte meine Gastgeberin. »Trösten Sie sich. Wenn Sie erst mein Alter erreicht haben, werden Sie noch viel häufiger in der Vergangenheit schwelgen. Darf ich Ihnen als Entschuldigung einen ‘69er Amontillado anbieten?«
    »Sehr gern«, antwortete ich.
    »Wie gefällt Ihnen Ihr Zimmer?«
    »Es ist fabelhaft, Madam. Wie das ganze Anwesen … Es erinnert mich an Ihr altes Haus in Hever. Die Erinnerung daran hat sich unauslöschlich in mein Gedächtnis geprägt.«
    »Ach ja, das alte Hever. Waren Sie noch einmal dort seit Ronalds Tod?«
    »Nein. Ich habe das Haus verkauft. Es war so voller Erinnerungen, dass es mich fast erdrückt hat. Und sagen Sie selbst, was soll ich mit einem solchen Besitz anfangen? Ich bin für das Stadtleben geboren. Ich habe mir von dem Geld eine schöne Eigentumswohnung gekauft, in der ich sehr glücklich bin.«
    »Verzeihen Sie meine Offenheit, aber ich halte es für einen Fehler, dass Sie das Haus verkauft haben«, sagte Lady Palmbridge und gab mir mein Glas. »Glauben Sie mir, je älter man wird, desto mehr zieht es einen zu den Wurzeln der Kindheit zurück. Das werden Sie noch merken. Warum wohl haben mein Mann und ich dieses Gebäude nach den alten Plänen bauen lassen? Wir hatten gehofft, hier wieder Wurzeln zu schlagen, aber soll ich Ihnen etwas sagen? Es geht nicht! Nichts und niemand wird Ihnen den Ort Ihrer Jugend je wiedergeben können.«
    Damit hob sie ihr Glas, und wir stießen an. In diesem Moment erklangen Stimmen im Foyer. Offensichtlich waren die beiden anderen Gäste eingetroffen. Die Tür öffnete sich, und die beiden Australier betraten den Raum. Beide trugen sie tadellos sitzende Anzüge, doch schien sich zumindest Sixpence in seinem ebenso unwohl zu fühlen wie ich mich in meinem. Ich musste mir bei ihrem Anblick ein Grinsen verkneifen, sahen die beiden doch aus, als wären sie einer Erzählung von John Rider Haggard entsprungen. Auch wenn meine Skepsis Maloney gegenüber sich nicht gelegt hatte, war ich doch neugierig zu erfahren, was diese beiden so unterschiedlichen Menschen zusammengebracht hatte.
    »Kommen Sie herein«, sagte Lady Palmbridge mit gewohnt fester Stimme, und ich begann mich zu fragen, wie sie wohl geklungen hatte, als sie noch im Vollbesitz ihrer Kräfte war. »Aston, schenken Sie den Herren ein, was immer sie möchten. Ich hoffe, Sie haben etwas Appetit mitgebracht, denn Miranda, meine Köchin, hat sich für Sie etwas besonders
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