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Reise im Mondlicht

Titel: Reise im Mondlicht
Autoren: Antal Szerb
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auch in dem Moment in seiner Tasche war, als er feststellte,
     man habe sie gestohlen. Mihály beruhigte sich. Es war nicht das erste Mal in seinem Leben, daß er Weiß als Schwarz sah, daß
     sich seine Eindrücke und Annahmen von der Realität abkoppelten.
    Vannina begleitet ihn bis vor die Tür, ja, ging noch ein Stück mit ihm in Richtung des Gianicolo.
    »Kommen Sie wieder einmal. Sie müssen ja auch nach dem bambino sehen. Ein Pate hat auch Pflichten, die dürfen Sie nicht vernachlässigen.
     Kommen Sie. Oft. Immer   …«
    Mihály gab dem Mädchen die zweihundert Lire, küßte sie plötzlich auf den Mund und hastete weg.

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    Er betrat sein Zimmer.
    Ich will mich ein bißchen ausruhen und überlegen, was ich eigentlich will, und ob ich will, was ich will, und erst dann schreibe
     ich an Éva. Denn meine Situation ihr gegenüber ist ein bißchen merkwürdig, und wenn ich ihr erzählte, warum ich gestern nicht
     nach Hause gekommen bin, würde sie es vielleicht gar nicht glauben, so läppisch ist die Sache.
    Er zog sich mechanisch aus und begann sich zu waschen. Ob es wohl noch einen Sinn hatte, sich zu waschen? Doch er zögerte
     nur einen Augenblick, wusch sich dann, kochte sich Tee, nahm ein Buch, ging zu Bett und schlief ein.
    Er erwachte, als es klingelte. Er eilte hinaus, frisch und ausgeruht. In der Zwischenzeit hatte es geregnet, und es war nicht
     mehr so heiß wie an den vorangegangenen Tagen.
    Er machte die Tür auf und ließ einen älteren Herrn eintreten. Seinen Vater.
    »Servus, mein Sohn«, sagte sein Vater. »Ich bin gerade angekommen, mit dem Mittagszug. Na, ich bin froh, daß du zu Hause bist.
     Hungrig bin ich auch. Ich möchte dich bitten, mit mir zum Essen zu kommen.«
    Mihály war vom unerwarteten Erscheinen seines Vaters zwar ungeheuer überrascht, aber das dominierende Gefühl war doch nicht
     die Überraschung. Und auch nicht Verlegenheit und Scham, während sein Vater sich im Zimmer umblickte und krampfhaft darauf
     achtete, mit keiner Miene den Widerwillen zu verraten, den ihm die ärmliche Umgebung einflößte. Ein anderes Gefühl herrschte
     in Mihály vor, ein Gefühl, das er in geringerem Maß von früher kannte, aus der Zeit, da er oft im Ausland gewesen war. Auch
     damals hatte es ihn immer gepackt, wenn er nach längerer |252| Abwesenheit nach Hause kam:das Entsetzen darüber, daß sein Vater in der Zwischenzeit älter geworden war. Aber so sehr, nein,
     so sehr war sein Vater noch nie gealtert. Als er ihn das letzte Mal gesehen hatte, war er noch der selbstsichere Mann mit
     den herrischen Gesten gewesen, so wie ihn Mihály sein Leben lang gekannt hatte. Oder so wie er ihn zumindest sah, denn er
     lebte nun schon seit Jahren zu Hause, und wenn an seinem Vater eine Veränderung vorgegangen war, hatte er die allmähliche
     Verwandlung nicht bemerkt. Um so deutlicher sah er sie jetzt, nach ein paar Monaten der Trennung. Die Zeit war in das Gesicht
     und die Gestalt eingebrochen. Sein Vater hatte, nicht sehr, aber doch eindeutig, etwas Greisenhaftes:der Mund hatte seine
     Straffheit verloren, die Augen waren eingefallen und müde (allerdings war er ja die ganze Nacht gereist, eventuell sogar dritter
     Klasse, sparsam wie er war), sein Haar war noch weißer, seine Rede weniger knapp und klar, sondern irgendwie auf erschreckende
     Art ein bißchen schlurfend – schwer zu sagen, wie genau, aber da war die Tatsache in ihrer ganzen grausamen Realität: Sein
     Vater war ein alter Mann.
    Und gemessen daran war alles andere nichts, weder Éva noch die Todesabsichten und nicht einmal Italien.
    Bloß jetzt nicht weinen, ja nicht,Vater würde mich zutiefst verachten und daneben vielleicht auch erraten,daß ich um ihn weine.
    Er riß sich zusammen, machte sein ausdruckslosestes Gesicht, mit dem er gewöhnlich all das aufnahm, was mit seiner Familie
     zusammenhing.
    »Es ist sehr nett,Vater, daß du gekommen bist. Bestimmt hattest du gewichtige Gründe, die lange Reise auf dich zu nehmen,
     und erst noch im Sommer   …«
    »Gewichtige Gründe, gewiß. Aber nichts Unangenehmes. Es ist nichts passiert. Du hast zwar nicht danach gefragt, aber deine
     Mutter und deine Geschwister sind wohlauf. Und wie ich sehe, fehlt auch dir nichts Besonderes. So laß uns zum Mittagessen
     gehen. Führ mich an einen Ort, wo man nicht mit Öl kocht.«
    »Erzsi und Zoltán Pataki waren vorgestern bei mir«, sagte sein Vater während des Essens.
    »Was? Erzsi ist in Budapest? Und sie sind zusammen?«
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