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Reich der Schatten

Reich der Schatten

Titel: Reich der Schatten
Autoren: Shannon Drake
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schwarz.

1
    Seit eurer letzten Begegnung hat er sich verändert. Er hat sich wirklich verändert.«
    Ann wedelte mit der Hand in der Luft herum, der Rauch ihrer Zigarette wurde zu einem kleinen Wirbel.
    Tara starrte ihre Cousine verständnislos an. Sie war erschöpft. Auf ihrer Reise über den Atlantik in Richtung Osten hatte sie kein Auge zugetan, obwohl sie die ganze Nacht geflogen war. Sie wollte nur noch ankommen auf dem kleinen Château ihres Großvaters in der Nähe von Paris. Doch Ann, die sie vom Flughafen abgeholt hatte, wollte unbedingt noch frühstücken, bevor sie sich auf den Weg aus der Stadt machten.
    Und jetzt versuchte Ann ihr gerade zu erklären, dass ihr Großvater senil sei, ja vielleicht sogar an Alzheimer leide, auch wenn sie es nicht ausgesprochen hatte.
    Tara kniff die Augen zusammen, schüttelte den Kopf, trank einen großen Schluck Milchkaffee. »Ann, wenn Großpapa krank ist, sollte er vielleicht in die Staaten zurückkehren.«
    »Puh!« Ann rümpfte die Nase. »Warum glaubst du ständig, dass in Amerika alles besser ist?«
    »So habe ich das nicht gemeint.« Tara senkte den Blick und biss sich auf die Lippen. Sie wusste, dass die medizinische Versorgung in Frankreich ganz ausgezeichnet war. Doch sie neigte tatsächlich dazu, zu glauben, dass in Amerika alles besser war.
    Bis auf die Croissants und den Café au Lait.
    Sie grinste reumütig. »Tut mir leid.«
    Ann zuckte großmütig die Schultern.
    »Aber wenn du mir sagen willst, dass er übergeschnappt ist …«
    Ann seufzte tief. »Nein, das nicht. Wirklich nicht.«
    »Aber du glaubst, dass er senil wird? Ein paar Überspanntheiten kann man ihm in seinem Alter allerdings schon zugestehen.«
    Ann zuckte noch einmal die Schultern. » Mais oui. Er behauptet ja, dass er gar nicht weiß, wie alt er ist. Jedenfalls sagt er immer, dass er älter war als die meisten Jungs in der Résistance, und der Zweite Weltkrieg war 1945 zu Ende. Ja, er ist wohl schon ziemlich alt. Ich habe dir ja am Telefon von seinen Atemproblemen berichtet, und deshalb war er auch im Krankenhaus, aber seit einigen Tagen ist er wieder zu Hause. Ich mahne ihn ständig, auf sich aufzupassen, aber er bleibt einfach nicht im Bett. Er steht auf und zieht sich in seine Bibliothek zurück. Dort schließt er sich ein, und wenn er rauskommt, redet er ständig über irgendwas, was er die ›Allianz‹ nennt.«
    »Vielleicht durchlebt er noch einmal seine Kriegszeit.«
    Ann wirkte besorgt, übernächtigt, erschöpft, was sonst nicht ihre Art war. Für Tara war ihre Cousine eine der schönsten Frauen, die sie kannte: Sie hatte tiefblaue Augen, dunkle Haare und einen sehr hellen Teint – ein verblüffender, faszinierender Kontrast. Außerdem war sie groß und schlank, mit Rundungen an den richtigen Stellen.
    Früher hatte es Tara manchmal richtig gehasst, wenn ihre französische Cousine sie besuchte. Viele ihrer Highschool- und Collegefreunde überschlugen sich schier bei Anns Anblick. Im Lauf der Jahre konnte sich Tara ihre Eifersucht eingestehen, aber trotzdem hatte sie ihre Cousine sehr lieb, und ihre Zuneigung wuchs, als sie älter wurde und die Highschool und das College längst hinter ihr lagen. In ihrer Jugend besuchte Ann ihre amerikanischen Verwandten so oft, dass ihre Rivalität fast wie die von Schwestern war, nur dass Taras ›Schwester‹ einen faszinierenden Akzent und das Flair einer exotischen Fremden hatte. Tara hingegen war in ihrer Jugend nur drei Mal im Jahr mit ihren Eltern nach Paris geflogen. Ann sprach Englisch genauso fließend wie ihre Muttersprache, Taras französische Sprachkenntnisse hingegen waren eher kümmerlich, ihr amerikanischer Akzent unüberhörbar.
    Jacques DeVant, Taras und Anns Großvater, hatte sich gegen Kriegsende in Emily, eine amerikanische Krankenschwester, verliebt. Die beiden hatten geheiratet und sich in Amerika niedergelassen. Ihr Sohn David hatte sich während eines Auslandssemesters in Paris in eine französische Künstlerin, Sophie, verliebt. Er war dort geblieben. Emily und Jacques hatten auch eine Tochter, die einen irischstämmigen Amerikaner, Patrick, geheiratet und mit ihm zwei Kinder bekommen hatte, Tara und ihren Bruder Mike.
    Trotz ihrer gemeinsamen Großeltern kamen Tara und Ann also aus zwei sehr unterschiedlichen Kulturen.
    Nach dem Tod ihrer Großmutter war ihr Großvater nach Paris zurückgekehrt und hatte sich auf seinem Familiensitz niedergelassen, auf dem auch Ann aufgewachsen war. Anns Eltern hatten sich inzwischen
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