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Regeln des Tanzes: Roman (German Edition)

Regeln des Tanzes: Roman (German Edition)

Titel: Regeln des Tanzes: Roman (German Edition)
Autoren: Thomas Stangl
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hat nicht aus dem, was ihr wichtig, nein, notwendig ist, einen Beruf gemacht. Ist nicht in den Zeichen hängengeblieben; was ist denn dein Körper, dein Herumzucken auf der Bühne, dein Leben als ein Zeichen, das verleugnet, Zeichen zu sein; das in endloser, hilfloser Wiederholung den endgültigen Punkt umkreist, den deine Schwester erreicht hat: die entscheidende, totale Geste der Ablehnung und Bestätigung (aber denkst du das nicht nur, weil du das Scheitern eines anderen nicht erkennen kannst, immer nur dein eigenes Scheitern?).
    Die Bühne ist das Gefängnis, das du nicht verlassen kannst, ein immer enger werdendes Gefängnis. Die Lichtpunkte tanzen auf ihrer Haut, sie kann, wenn sie will, diese Haut ritzen, sie aufschneiden wie eine Verpackung, den Anweisungen der Scheinwerfer folgend; genauso kann sie mit der Haut eines anderen verfahren. Die Fresse abmontieren , denkt sie, die europäische Fresse. Zum ersten Mal wird sie, in der Vorstellung, für die sie probt, nicht allein auf der Bühne sein; ihr scheint, es müsste ihre letzte Vorstellung werden: alles soll in der Darstellung enthalten sein, alles, was vor fünfzehn Jahren geschehen ist, von der Wut und der Euphorie bis zum letzten Schuss, zusammengepresst in die Klumpen dieser Körper, ohne dass irgendetwas direkt dargestellt wird. Alles, was vor fünfzehn Jahren, und alles, was davor geschehen ist. Sie kann ihren Blick, traumscharf und fast tödlich, auf einen anderen, einen Stellvertreter, eine wirkliche Person richten.
    Er bekommt das Programm in zwanzigfacher Ausfertigung zugeschickt, kein eigenes Programmheft für den einmaligen Auftritt, sondern das Monatsprogramm des Veranstaltungsortes, dennoch findet er es seltsam, seinen Namen hier zu lesen. Karten, Einheitspreis, Euro 15.
    Er blättert das Heft durch, am Ende stehen einige Seiten mit Sponsorenwerbung, eine Bank, eine Versicherung, eine Stadtzeitung; ein Firmenname lässt ihn zusammenzucken.
    Den Text zu ihrem Auftritt hat offenbar die Tänzerin selbst geschrieben. Man muss vollkommen vergessen, wie man gehen kann, liest er. So ungeschickt sein, dass man im Stehen stolpert, dann beginnt das Tanzen. Dann beginnt dein Körper zu tanzen; dieser Körper, der dein Körper war (meint sie sich selbst oder spricht sie ihn an oder sonst jemanden, kann sie jemand Bestimmten anreden oder muss sie einen jeden meinen: sonst lohnt es sich für sie nicht zu sprechen). In Kellern, die wie Wälder sind, liest er, von Generationen toter Menschen errichteten Höhlen unter Gebäuden, die zu Wäldern geworden sind, dort bist du zu finden. Der Tanz erzählt nichts, die Bewegungen sprechen nicht, der Ort, den man Bühne nennt, ist kein Ort, es gibt kein Dekor, keine Symbole, es gibt kein Wörterbuch der Gesten. Kein Wort, keine Geste hat einen Bezug auf ein anderes Wort, eine andere Geste. Es gibt kein Denken, liest er, außer dem Denken, das sich in die Wahrnehmung deiner einzelnen Körperteile bohrt. Was bleibt von dir, wenn das Licht von dir weggeschnitten ist.
    Sie versteht nicht ganz, woher sie diesem Mann gegenüber eine Macht hat, wie sie sie keinem anderen gegenüber je hatte. Sie versteht nicht ganz, warum sie ihre Macht auch ausnützt; es ist ekelhaft, über eine Figur zu verfügen; aber es ist nicht sie als sie selbst, die Macht ausübt und über eine Figur verfügt.
    Als er sie zu einer letzten Vorbesprechung wiedersieht, ist er enttäuscht und erkennt sie kaum wieder, diese Frau mit dem knochigen Gesicht und den immer größer werdenden Augen (Augen, die gar nicht ihre eigenen Augen zu sein scheinen), die er nun wirklich für vierzig und nicht jünger hält, was wohl heißt, dass sie älter aussieht als sie ist, denn er hält, seit er alt geworden ist, ohne es recht zu begreifen, Frauen, die vierzig sind, für dreißig und Frauen, die dreißig sind, für zwanzig. Die Art von Verliebtheit (oder sozusagen sekundärer Verliebtheit), mit der er an sie gedacht hat, fällt in sich zusammen, er merkt, dass er nicht an sie als Frau gedacht hat, nicht in sie als Frau verliebt war, sondern in etwas Allgemeines; dieses Allgemeine, das in irgendeiner Weise für ihn von der Frau abhängig war, kann er sich nun aber nicht mehr recht vorstellen.
    Wie viel kann sie Dr. Steiner zumuten, ohne dass er davonläuft, fast alles. Sie redet über technische Details, das Wichtigste lässt sie aus, über das Wichtigste kann man nicht sprechen; man kann über Dinge sprechen, die einen äußeren Kreis der Geschichte ausmachen; die
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