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Regeln des Tanzes: Roman (German Edition)

Regeln des Tanzes: Roman (German Edition)

Titel: Regeln des Tanzes: Roman (German Edition)
Autoren: Thomas Stangl
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würden die Klänge aus einem Raum hinter dem Raum kommen. Es wird still, als er das Pult erreicht hat, ein Scheinwerfer strahlt ihn an, so dass er den Kopf senken muss. Erstens, dein Gesicht. Deine Wangen brennen; deine feuchten Augen.
    Bleib stehen und rühr dich nicht, steht auf dem Zettel, der zuoberst auf dem Pult liegt. Lies deinen Text vor. Er erkennt seine paar Sätze über den Garten und die Mädchen wieder und fängt fast mechanisch an vorzulesen. Die beiden Mädchen scheinen ein merkwürdiges Haus zu bewohnen oder immer dahin zurückzukehren . Er hört seine Stimme aus dem Lautsprecher, eine Stimme, die seinem Lesen folgt, jedes Wort kommt ihm falsch vor; zugleich scheint ihm, die beiden Mädchen müssten gleich auftauchen, auf der Bühne, vor seinen Augen, sie sind zwei, sie sind Schwestern, sie sind kaum erwachsen, mit ihnen würden auch gleich die von jedem Lichtstreifen hervorgebrachten neuen Räume sichtbar werden.
    Er weiß, dass er sich nicht bewegen darf. Dann dreht er sich doch um. Mit seltsamen, gleichzeitig elegant und spastisch-ungeschickt wirkenden Körperwindungen kommt die Tänzerin (deren Name klingt wie eine Automarke, der Gott einer halbgaren halböstlichen Religion, eine Verzweiflungsinternetfirma) auf ihn zu, stolpernd und im Stolpern in eine Form oder eher in die Schwerelosigkeit hineinfallend; sie trägt ein weißes Baumwollhöschen (wie es, erinnert er sich, die jungen Mädchen in den siebziger Jahren getragen haben) und ein halb offenes zu weites Herrenhemd mit zerschlissenem Kragen und Löchern an den Achseln. Er kennt dieses Hemd. Fast spürt er den Krampf, der sie Schritt vor Schritt setzen lässt. Er hatte noch nie ein so starkes Gefühl ihrer körperlichen Anwesenheit, ihrer Nähe, noch nie so eine Sehnsucht nach ihr, dieser Frau, dieser Schwester, wie jetzt, im Bewusstsein der Unmöglichkeit, auf dieser Bühne auch nur einen Schritt auf sie zuzugehen, kurz fürchtet er, er könnte eine Erektion bekommen, gleich oder, noch schlimmer, nachher (und wenn schon, es ist doch alles gleich).
    Er weiß, dass es ein Fehler war, den Kopf zu drehen, er hält nun still.
    Das ist sein Moment, denkt er, voller Angst, der Moment, auf den er so lange gewartet hat, der Moment der Verwandlung. Er will nicht mehr er selbst sein und will mehr sein als er selbst. Sie schmeißt das Pult um, der Krach lässt die Leute kurz den Atem anhalten. In der Hand hat sie ein Messer, aber dies ist ein Ort, wo es keine wirkliche Verletzung gibt und wo man nicht wirklich sterben kann. Nur dass er wirklich da ist an diesem unwirklichen und geschützten Ort, er selbst und mehr als er selbst.
    Jede Bewegung folgt ihrer eigenen Notwendigkeit, sie verliert die Gewalt über den eigenen Körper oder gibt, kontrolliert, alle Gewalt ab, spürt im Gewaltverlust Muskel um Muskel, Sehne um Sehne, Nervenspitze um Nervenspitze, von Licht und Dunkelheit gekitzelt, als Ganze umschmiegt von der täuschenden Wärme der falschen Welt, die sie umgibt, sie kann das Licht heranziehen und es wegschneiden. Jemandem nahezukommen ist ein Angriff. Jemandem ins Gesicht zu sehen ist ein Angriff. Sie bewegt sich, als könnte sie Zug für Zug, in der Welt verschwindend, auf den Boden vor ihr gezeichnete Linien entlangtanzen. Ihr konzentriertes Bewusstsein ist zusammengeschrumpft und in ihren Körper geschlüpft; ihr Körper, die Welt sind zusammengeschrumpft und konzentriert in das Messer in ihrer Hand. Sie ist sich schmerzlos deutlich, ganz Fleisch, ganz in sich eingebettet, ein Stück Mensch, ein ganzes, nicht mehr restlos in sich verschlossenes, in die Welt eingesetztes Stück Mensch. Der Augenblick leuchtet im Glanz der Bedrohung, es ist eine Art von Liebe, Liebe zu wem, es ist der pure Hass, Hass auf wen (oder ist alles doch nur Theater, Spiel der Stellvertreter).
    Sie zieht die Figur, die auf der Bühne steht, ins Bild, Schnitt für Schnitt, es gibt kein Außen mehr. Dieses Bild ist nicht festzuhalten, aber es soll sich eingraben in die Zeit. Du kannst die Lügen wegschneiden, Lüge für Lüge, so lang schneiden, bis nichts übrig ist von der Welt als die Körper im Stillstand; das ist Tanz: Körper im Stillstand.
    Er trägt ein Sakko, einen Pullover, eine schwarze Jeanshose, schwarze Socken, glänzende schwarze Schuhe. Sie hockt auf dem Boden, er schaut auf ihr Haar und ihren Nacken, steht ohne schützendes Pult und schützenden sinnlosen Text mit weichen Knien da, sie schneidet seine Schnürsenkel durch, hebt sein linkes Bein an,
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