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Regeln des Tanzes: Roman (German Edition)

Regeln des Tanzes: Roman (German Edition)

Titel: Regeln des Tanzes: Roman (German Edition)
Autoren: Thomas Stangl
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verwandelt und ist stillgestellt, fast als wäre er auf der Bühne (im Glanz der Nacktheit) gestorben. Jetzt erst verlangsamt sich die Zeit. Jetzt spürt er eine andere, noch sanftere Berührung, weich, nass und kitzelnd, aber er denkt nicht daran, sich zu bewegen, er denkt nicht daran, den Kopf zu senken, er denkt auch nicht an die Tänzerin, die Frau. Es gibt kein einzelnes Gegenüber mehr, keinen einzelnen Blick, nur die ganze Welt, an diesem Punkt, hier, die ganze Welt.
    Aber dann merkt er, wie grell das Licht ist, das über seinen Körper wandert und Punkt für Punkt hervorhebt und isoliert (die ganze Welt; soviel Sonne, dass die Welt schwarz wird). Oder das Licht wird stärker; oder es erreicht erst jetzt in voller Stärke sein Gesicht, seine Augen. Er sucht Ritzen in dem Licht, in keinem der sich öffnenden Räume findet er Schutz vor den Blicken, die sich vereinzeln und spürbar werden, die Sekunden verstreichen.
    Sie trägt dieses fünfzehn oder vielleicht zwanzig Jahre alte Hemd, das sie niemals gekauft hat und das Mona sicher niemals gekauft hat und von dem kein Lebender weiß, wer es früher einmal getragen hat. Das Messer hat sie mit einem Schwamm getauscht, das Wasser tropft zu Boden, eine Pfütze bildet sich, von den Füßen bis zum Gesicht dieses Mannes (dieses Neugeborenen) zu gelangen, mit Kreisbewegungen, die sie langsam wie eine Tote ausführt, ist eine Reise durch eine endlose Wüste, jemand könnte ganz plötzlich, unvermittelt schreien, weil er dieses Zeitmaß nicht ertragen kann; sie könnte schreien, mit der gleichen Gewalt, mit der sie am Beginn des Stücks das Pult umgeschmissen hat. Es ist etwas völlig anderes, diesen Mann (dieses Neugeborene) zu berühren als die Männer, die sie in ihrem Leben berührt und gehalten und von sich weggehalten hat; es ist viel mehr, weil es weniger ist; es ist unendlich viel mehr und es ist nichts. Dieser Mann hat keinen Namen mehr, er lebt jetzt in der Vergangenheit, er ist Vergangenheit. Die Vergangenheit ist nicht aus der Welt verschwunden, aber sie ist nicht dort, wo sie selbst sich befindet und tanzt und von der Bühne gehen und weiterleben wird. Sie dreht sich weg von dem Mann, öffnet das Hemd, auf dem Boden hockend, breitet es über ihren Kopf und ihren Körper, verschwindet darunter, wie bei ihrem allerersten Auftritt; dann ist statt ihr nur mehr eine Lichtfläche auf dem Boden da (wenn es noch Boden gibt), zitterndes Licht.
    Es ist wie ein Zerfallen des Augenblicks. Als die Tänzerin von der Bühne geht, fühlt er sich zuerst wie ein alleingelassenes Kind; dann entblößt, als würde die Nacktheit plötzlich ihren Charakter geändert haben, der Schatten entblößt und zerschneidet ihn mehr, als es das Licht getan hat: halb vom Schatten verschluckt, ist er immer noch sichtbar; ebenso sind nun aber die Zuschauer sichtbar, jeder einzelne Zuschauer; du bist aus dem Stück herausgefallen und zurück in der sogenannten wirklichen Wirklichkeit, die aber mit Sicherheit nicht mehr die deine ist. Wie sehen sie dich, du weißt es jetzt: als nackten älteren Mann, nichts ist unangenehmer und weniger erotisch als solch ein Körper, der gerade noch darauf insistiert, ein Körper zu sein, aber ohne Zauber ist, ohne fremdes Parfum, ohne Ort, auch wenn er sich in der Öffentlichkeit (einer Bühne, eines Internetvideos, eines Strandes) verzweifelt zur Schau stellen will, es ist nur ein schon halb ungeschlechtliches Stück Mensch, das aus seinem Innern einen faden Geruch ausströmt.
    Das Zarte, leicht Eklige hinter seinem Gesicht; das, was niemand sehen darf; worüber er keine Macht hat und niemals Macht haben wird, ist sichtbar geworden, durch die seltsame ungeschickte Kunst oder Zauberei der Tänzerin, die er nie mehr wiedersehen wird, so wie er ihre Schwester, die er nur auf Fotos und vielleicht in einem Traum gesehen hat, nie wiedersehen wird und, so denkt er aber nur einen ganz kurzen Augenblick lang, niemanden, den er vermisst; er weiß übrigens gar nicht so recht, als welche Person er irgendjemanden, den (die) er vermisst, wiedersehen möchte. Vielleicht weiß es die Tänzerin, woher auch immer, aber sie wird es ihm nicht sagen; alle, die er vermisst, vermisst er in der Tänzerin, die eben von der Bühne verschwunden ist, deren Stimme, wahrscheinlich von einem Tonband, aber aus dem Off noch zu hören ist, so dass das Stück nicht zu Ende sein kann und er sich weiter nicht bewegen darf. Welche Person könnte dieses Zarte, leicht Eklige umkleiden und wozu: um
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