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RECKLESS HEARTS

RECKLESS HEARTS

Titel: RECKLESS HEARTS
Autoren: Eileen Janket
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viel zu einsam und hilflos in ihrem Unglück, um sich wirklich wehren zu können.
    Konnte sie ihrem Vater etwas vorwerfen? Klammerte er sich nicht an pragmatische Lösungen, die ihm die Rettung seines Verstandes und die Rückkehr in ein normales Arbeiterleben versprachen? Um nicht gänzlich den Boden unter den Füßen zu verlieren, zwang er sich, mit aller unmenschlicher Anstrengung, von den Möglichkeiten, die ihm seine Herkunft bot, Gebrauch zu machen: Ja, er würde noch mal heiraten … irgendein daheimgebliebenes, altes Mädchen aus dem Heimatdorf in der Türkei und eine neue Familie gründen … Noch mal von vorn anfangen ... nein ... nicht von vorn anfangen ... weiter machen, einfach weiter machen. Vielleicht würde er mit der neuen Frau einen Sohn bekommen und die fehlende Portion Anerkennung erhalten, nach der sich jede Faser seines Körpers insgeheim sehnte. Doch was würde es ihm tatsächlich bedeuten? Meltem war fort und mit ihr sein Glück in diesem Leben.
    Selin, jedenfalls, wurde kurz vor ihrem neunzehnten Geburtstag und dem neuen Millennium mit dem schwabbeligen Sabri verheiratet und zog aus der geräumigen, mit dem tadellosen Geschmack ihrer Mutter stilvoll eingerichteten Altbauwohnung in Neukölln in eine triste Zwei-Zimmer-Wohnung im Wedding.
    Am Tag der Hochzeit hatte Selins sichtlich betretener Vater mit zittriger Stimme in ihr Ohr geflüstert: »Mein Mädchen, sieh doch, der Sabri hat eine gute Arbeit und ist fleißig, er wird dir ein guter Mann sein!« Aber seine glasigen, alten Augen tränten, und mit schuldvoller Miene verzog er sich noch weiter in den Hintergrund von Selins Leben, bis auch er, nur wenige Monate später, auf halber Fahrstrecke in die Türkei zur absurden Brautschau, unter einem rumänischen Gütertransporter sein Leben verlor …
    Als laste ein Fluch auf der Familie, sagte man …
    Wie ihre Mutter wurde auch Selins Vater auf dem muslimischen Friedhof Nahe dem Columbiadamm in Neukölln beerdigt. Und wie bei ihrer Mutter war Selin nur zur Beerdigung dort gewesen und hatte sich danach nie wieder hingetraut ... aus Angst, der Schmerz könnte sie umbringen.
    Als Selin schließlich tagaus tagein allein in ihrer kleinen Wohnung saß, entrückt der fernen Außenwelt, die sie mit aller Kraft, so gut es ging, mied, wurde ihr bewusst, dass sie kein Gesicht hatte. Wenn sie in den Spiegel sah, sah sie ein ihr unbekanntes Wesen mit leerem Blick, das seine schönen, langen Haare unter ein Kopftuch stopfte und seltsame Rock-Blusen Kombinationen trug. Sie versuchte sich zu erinnern, was passiert war, aber ihr Gedächtnis gab nicht viel preis, nur eine lose Erinnerung an einen frechen Fast-Teenie in zerschlissenen Jeans und ausgeblichenem Sweatshirt, der über Walkman laute Musik hörte, für ihr Leben gern Filme sah und am liebsten mit ihrer Mutter ins Kino ging.
    Sie wusste, das hatte mal was mit ihr zu tun.
    Sie erinnerte sich auch, dass ihre Mutter wächsern und regungslos auf dem Schlafzimmerteppich gelegen hatte, und dass wenige Jahre später der Direktor ihrer Schule bei der Schulabschlussfeier ihr persönlich die Hand gedrückt, sie herzlich angelächelt und ihr viel Erfolg gewünscht hatte und sie trotzdem nichts fühlen konnte, außer grausame Gleichgültigkeit.
    Danach hörten ihre Erinnerungen auf.
    Danach kamen dichter Nebel und Rauschen und ein verlorenes Zeitgefühl. Den stumpfen Schmerz in ihrem Kopf, diesen bedrohlichen, nutzlosen Intellekt, der nach Antworten verlangte, linderte sie, wie es manch einer mit Alkohol oder sonst einer »Zauberdroge« tun würde, mit Hilfe bewegter Bilder aus fiktiven Welten. Zurückgezogen in eine Ecke ihres Schlafzimmers, wo sie, ihr kleiner Fernseher und der DVD Recorder eine verschworene Einheit bildeten, war ihr das Genre der Filme vollkommen egal, solange der Plot sie wegbeamen konnte.
    Und ausgerechnet Sabri wurde ihr ergebener »Dealer«, brachte ihr tütenweise DVDs aus der Videothek seines Kumpels mit, jeden Freitag, immer die neuesten Filme und immer in der Hoffnung, Selin würde sich irgendwann dankbar erweisen ... oder wenigstens mal lächeln.
     
    Selin leerte ihr Glas. Sie hatte wieder eine Kopfschmerzattacke, wie so häufig in den letzten Jahren. »Das kommt von deinen inneren Dämonen«, hatte Sabri jedes Mal vorwurfsvoll behauptet, statt echte Besorgnis zu zeigen. »Wenn du Kinder kriegen würdest, Selin, hättest du keine Zeit mehr für deine Zipperleins!«
    Plötzlich hatte sie das letzte Bild von Sabri wieder vor Augen: wie
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