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Rassenwahn: Kriminalroman (German Edition)

Rassenwahn: Kriminalroman (German Edition)

Titel: Rassenwahn: Kriminalroman (German Edition)
Autoren: Jörg Gustmann
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Höchstgeschwindigkeit von 126 Kilometern pro Stunde zu testen.
In Zeiten wie diesen waren die Straßen in einem bedauerlichen Zustand, wo es dem
Fahrer nicht annähernd vergönnt war, die Kräfte des Motors auf dem Tachometer bewundern
zu können.
    Die Reifen
kamen direkt neben dem Haus zum Stehen, ohne auf dem feinen Kies eine unschöne Bremsspur
zu hinterlassen.
    Das herrschaftliche
Anwesen, vor dem dieser Wagen bei schönstem Sommerwetter parkte, hatte einst einer
wohlhabenden jüdischen Familie gehört, die ihres Besitzes, nach Ansicht der SS,
für höhere Zwecke enteignet wurde. Die ehemaligen Bewohner mussten ihr Haus, das
sich über Generationen im Besitz ihrer Familie befand, gegen eine andere Unterkunft
eintauschen. Eine Behausung, die sie nun mit Dutzenden Insassen, nach Männern und
Frauen getrennt, teilten. Sie lebten fortan in Baracken voller Ungeziefer, Hunderte
Kilometer von ihrer Heimat entfernt, während sie auf den Tag ihrer Befreiung oder
den ihres Todes warteten.
    Nun beherbergte
diese exklusive Wohnstatt 29 Kinder und 15 Mütter sowie acht Pflegerinnen, drei
Krankenschwestern, vier Hebammen, zwei Köche und einen im angrenzenden Gästehaus
wohnenden Allgemeinmediziner, der um das Wohl aller dort Lebenden besorgt sein sollte.
    Ein Mann
um die 27, von schlanker Statur, stieg auf der Beifahrerseite des Wagens aus, während
der Fahrer ungerührt sitzen blieb. Der Aussteigende gab kurze Anweisungen, der Chauffeur
nickte daraufhin. Der Besucher ließ die schwere Tür des Opels ins Schloss fallen.
Die dritte Fahrt mit dem neuen Automobil war zu seiner vollen Zufriedenheit verlaufen.
Ein letzter entspannender Blick auf das Vehikel, bevor er hineinging, um sich einem
unangenehmen Gespräch zu stellen.
    Auf einer
der untersten Treppenstufen hielt er kurz inne. Er wollte Sekunden der Unbeschwertheit
heraufbeschwören und blickte sich um. Er holte tief Luft. Ein Singvogel in der Nähe
pfiff auf die Befehle des Führers und trällerte dem Krieg zum Trotz. Dem Klang nach
muss es ein Buchfinkenmännchen sein, überlegte er. Der Besucher suchte den Vogel
mit den Augen, wollte ihn zwischen den Blättern ausmachen, doch erst als dieser
aufflog, bemerkte er das blau-graue Köpfchen und die auffällig weiß gebänderten
Federn. Er nickte zufrieden. Welch beneidenswerte Umgebung dieses Anwesen beherbergt,
dachte er. Welch ein Segen, in dieser Abgeschiedenheit, fern allen Kriegstreibens,
Kinder zu gebären und zu wertvollen deutschen Menschen heranwachsen zu sehen.
    Nun wandte
sich der Mann den Stufen zu, die vor ihm lagen. Er trug einen grauen, zweireihigen
Anzug, den er zuknöpfte, sowie blankpolierte Schuhe mit feiner Ledersohle. Ein heller
Hut mit einem schwarzen Band und weiter Krempe schützte seine undurchdringlichen
Augen vor der Sonne.
    Bei all
dieser paradiesischen Anmutung täuschte die Idylle über die Wahrheit dessen, was
im Inneren dieser Mauern geschah, hinweg. Nur wenige Menschen wussten in allen Einzelheiten
von der wahren Bestimmung solcher Gebärstätten; sie waren zwar nicht geheim, aber
äußerst exklusiv.
    Eine adrette
Krankenschwester kam dem Besucher entgegen, eilte die sieben Stufen des Haupthauses
hinunter und grüßte ihn mit einem zackigen »Heil Hitler«. Sie trug eine weiße Schürze
und eine weiße Haube auf dem Kopf. Die blonden Haare hatte sie zu einem Knoten zusammengesteckt,
sodass die feinen Konturen ihres blassen Gesichtes zur Geltung kamen.
    Der Besucher
erwiderte den Gruß pflichtgemäß und ließ sich von ihr zu den Schlafräumen der Mädchen
geleiten.
    »Gut, dass
Sie mich rechtzeitig benachrichtigt haben«, begann er steif, doch sein Ton nahm
an Dringlichkeit zu. »Das Kind muss umgehend behandelt werden.« Der Besucher suchte
den Blick der Schwester. »Was sagt Dr. Reuter zu diesem Problem?«
    Die junge
Frau rieb sich verlegen die Hände. Sie schwitzte, doch nicht allein wegen der Sommerwärme.
»Nun«, antwortete sie, »er ist ratlos. Er erwähnte, einen Spezialisten hinzuzuziehen,
möglicherweise einen … Nervenarzt.«
    Der Besucher
riss erneut den Kopf herum und sah die Schwester mit aufgerissenen Augen an. Seine
Lippen presste er zu einem engen Schlitz zusammen, während er auf dem Absatz der
Treppe stehen blieb. Solche Worte in seinen Ohren schienen ihm einen beinah körperlich
spürbaren Schmerz zuzufügen.
    Die Schwester
lenkte ein. Sie hatte Angst. Angst vor diesem Mann, vor dessen Vorgesetzten, der
rechten Hand des Führers und vor Bestrafungen jeder Art. »Bitte,
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