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Rassenwahn: Kriminalroman (German Edition)

Rassenwahn: Kriminalroman (German Edition)

Titel: Rassenwahn: Kriminalroman (German Edition)
Autoren: Jörg Gustmann
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glauben Sie mir,
wir haben uns alle erdenkliche Mühe mit diesem Kind gegeben, aber es ist anders
als die anderen. Es reagiert nicht auf das, was wir ihm sagen. Es helfen keine Schläge,
kein Schlafentzug, keine dunkle Einzelkammer, nichts. Das Mädchen will einfach nicht
gehorchen und nicht sprechen, obwohl es schon vier ist.«
    Der Besucher
rang nach Worten. Trotz seiner herausragenden Position, seiner erstklassigen Schulbildung
und seines weltmännischen Auftretens erfasste ihn eine gewisse Hilflosigkeit – eine
Sprachlosigkeit, die er als Kommandant nicht gewohnt war. In den Dingen, mit denen
er nun konfrontiert wurde, fühlte er sich unsicher, und dieser Umstand ärgerte ihn.
Noch mehr zu schaffen machte ihm der Inhalt jenes Disputes. Überlaut, ohne sich
nach möglichen Zuhörern umzudrehen, fuhr er die Schwester an: »Dieser Zustand muss
sich ändern. Es kann nicht sein, dass ausgerechnet hier solche Kinder zur
Welt kommen. Sie wissen, was ich meine. Die Zukunft des deutschen Volkes hängt davon
ab, dass wir einwandfreies Erbgut weitergeben. Wenn dieses Kind nicht kooperiert,
werden wir andere Maßnahmen ergreifen müssen, obwohl es mir leidtäte.« Die Unterlippe
des Besuchers zitterte kaum merklich.
    Beide wandten
sich nach rechts um und gingen in einen der Flure im ersten Stockwerk. Es roch nach
frischer Farbe, und der Duft des einige Stunden zurückliegenden Mittagessens wehte
in feinen, unsichtbaren Schwaden in Höhe seiner Nase. Nach weiteren 20 Schritten,
die die Schwester eilig vor dem Hauptmann zurücklegte, blieben sie vor einer Tür
stehen, die zu einem der Schlafräume führte. Sie trat beiseite. Der Offizier straffte
seinen Rücken. Er kannte diesen Raum von einem Besuch, der eine Weile zurücklag.
Er drückte die Klinke herunter, atmete bewusst ein und öffnete die schwere Tür.
Ein Zimmer mit 30 Kinderbetten tat sich vor ihm auf. Dann, mit scheinbarem Widerwillen,
sah er zu einem braunhaarigen Mädchen, das im dritten Bett an der linken Seite,
direkt vor der Fensterfront, lag.
    Er erkannte
sie wieder.
    Sie verharrte,
steif wie ein Stock, auf ihrem Lager, hübsch anzusehen zwar, obgleich sie nicht
blond war, wie es bei zwei blonden Elternteilen zu erwarten gewesen wäre. Sie trug
ein weißes Kleidchen mit einer rosa Schleife am Hals. Ihre Füße steckten ebenfalls
in weißen Söckchen, und die feinen Schuhe – alles zur Feier des Tages – standen
nebeneinander vor dem Bett.
    Ihre Reaktion
bestand nicht darin, von ihrem Bett aufzuspringen, um den Besucher zu begrüßen,
ihn zu umarmen, sich zu freuen oder ein Hallo zu winken, sondern lediglich darin,
in regelmäßigen Abständen mit den Lidern zu zwinkern. In den Zeiten dazwischen starrte
sie an die weißgetünchte, mit Stuck verzierte Zimmerdecke, an der sich ein Ventilator
befand. Man hätte denken können, sie sei wie in einem Spiel damit beschäftigt, die
Runden der sich drehenden Blätter mit den Augen zu verfolgen. Nicht mit einem winzigen
Zucken sah sie zu dem elegant gekleideten Mann auf.
    Nachdem
der Besucher das Kind eine Weile beobachtet hatte, schüttelte er verwirrt, fast
verzweifelt, den Kopf. »Mein Gott, das ist ja furchtbar. Wie oft ist sie so?«
    Die Schwester
tupfte sich mit einem Spitzentaschentuch die Stirn und bedachte das Mädchen mit
einem mitfühlenden Blick. »Nur ab und zu, nicht oft. Meistens läuft sie draußen
herum und spielt mit Stöcken, Tannenzapfen und Eicheln oder mit den Tieren, die
sie auf dem Boden krabbeln sieht.« Die Schwester atmete schnell. »Sie fügt ihnen
kein Leid zu, wie viele der anderen Kinder, im Gegenteil. Sie versucht sie zu bewahren
und zu pflegen, und hätten wir sie nicht schon des Öfteren daran gehindert, würde
sie die Tiere mit hereinbringen. Und wenn wir mit ihr schimpfen, legt sie sich hin
und verharrt stundenlang in dieser Position. Wir reden auf sie ein, duschen sie
eiskalt nach den Regeln von Pfarrer Kneipp, doch sie bleibt regungslos.«
    Der Besucher
rieb sich über den kurz getrimmten Schnurrbart. »Spielt sie denn wenigstens mit
den anderen Kindern?«
    »Nein. Niemals.
Und berühren lässt sie sich schon mal gar nicht.« Die Schwester bedachte das Mädchen
mit einem Lächeln, und mit weicher Stimme fügte sie hinzu: »Eigentlich ist sie friedliebend,
doch ihr Verhalten ist sicher ungewöhnlich. Und sie spricht nicht.« Dann ergänzte
sie hastig: »Jedenfalls nur mit wenigen und wenn sie es will. Manchmal hören
wir sie murmeln, wenn sie im Gras sitzt und ein Käfer auf ihrer
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