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Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition)

Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition)

Titel: Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition)
Autoren: Carsten Jensen
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hab mal versucht, mir so einen Sack auf den Nacken zu legen. Es ging um eine Wette mit einem Hafenarbeiter. Ich konnte nicht mal die Füße bewegen. Hundertfünfzig Kilo! Dann zeigte er mir die Technik. ›Laufen Sie, Kapitän!‹, sagte der Kerl zu mir. Ich dachte, ich müsste auf der Nase laufen. Aber es klappte! Ich hatte das Gefühl, als müsste ich vor der Last davonrennen. Schauen Sie sich die da an. Jeden Moment könnten sie mit der vollen Schubkarre von der Gangway fallen. Aber was machen sie? Setzen sie vorsichtig einen Schritt vor den anderen, wie wir anderen es tun würden? Nein. Sie laufen davon. Vor dem Schwindelgefühl und dem Ungleichgewicht.«
    Er lachte vor sich hin.
    »Die Frage ist natürlich, wie lange man laufen muss. Es gibt ja für alles eine Grenze.«
    Der Kapitän drehte sich um und brüllte ein Kommando. Dann zog er seinen Passagier auf die Steuerbordseite. Die Kvæsthusbro glitt achteraus. Eine lange Reihe von Pferdewagen mit fast eingenickten Kutschern warteten auf dem überfüllten Kai, um Stückgut auf die vielen kleinen Dampfer zu verladen, die regelmäßig die Provinzstädte in Jütland anliefen. Prahme mit frischer Kohle schoben sich an die Seiten der Dampfer. Ein Tuten und Brüllen erscholl, als würden sich der Hafen und das ganze Land zum Aufbruch rüsten.
    Die Peru passierte den Larsens Plads. Hinter einer Reihe niedriger Speicher verbarg sich Schloss Amalienborg. Rauch stieg aus dem Schornstein des großen Amerikadampfers Thingvalla; am Kai wimmelte es von Menschen, die gekommen waren, um sich von den Auswanderern zu verabschieden.
    »Ich würde Sie gern etwas fragen, Rasmussen. Sie sind doch Maler.«
    Der Passagier nickte.
    »Wie kommt es, dass ich hier nie jemanden mit einer Staffelei sehe? Hier müsste es doch genügend Motive geben.«
    Carl Rasmussen, bisher in eigene Gedanken vertieft, schien plötzlich zu erwachen.
    »Was für Motive?«, fragte er und wies auf den Kai. »Kohlenhaufen, Masttopps, ein qualmender Schornstein? Amalienborg kann man kaum erkennen, den schönen Schlossplatz schon gar nicht. Das ist die Aussicht, die wir unserem König bieten. Wurzellose Menschen, die ihm den Rücken zukehren und das Land verlassen, weil es ihnen nicht gut genug ist. Sollte ein Maler dem Schaden auch noch Spott hinzufügen, indem er den Schmutz als Motiv wählt? Nein, es gibt wahrlich passendere Sujets. Dänemark ist noch immer ein schönes Land. Das dürfen wir nicht vergessen, und es ist die Aufgabe eines Malers, die Erinnerung daran wach zu halten.«
    »Aber Sie sind doch auf dem Weg nach Grönland.«
    »Dort ist die Natur großartig. Dort kann man die Hand des Schöpfers deutlich sehen.«
    »Rasmussen hat recht.«
    Der kleine Steuermann war neben ihnen aufgetaucht. Er hatte die Beschimpfung der Mannschaft für einen Moment unterbrochen.
    Der Maler sah ihn an.
    »Ich glaube nicht, dass man uns vorgestellt hat.«
    »Verzeihung. Ich habe keine Manieren.«
    Der Steuermann zog mit einer übertriebenen Bewegung seine Mütze vom Kopf und streckte die Hand aus.
    »Ryberg, Harry. Mein Name ist Harry Ryberg.«
    Er sprach den englisch klingenden Namen mit einem dänischen ›y‹ aus.
    »Ich bin ganz Ihrer Meinung. Der Herrgott wird in Kopenhagen nicht geachtet. Sehen Sie nur, wie die Gläubigen zu leben gezwungen sind.«
    Er wies in die Hafeneinfahrt, wo die gewundene Turmspitze der Vor Frelser Kirke hinter den Lagerhäusern am Asiatisk Plads hervorstach.
    Der Maler sah den Steuermann verwundert an.
    »Meinen Sie die Kirchen? Ich bin durchaus der Ansicht, dass wir hier in der Stadt schöne Kirchen haben.«
    »Nein, Ryberg denkt an das Seemannsheim Betel in Nyhavn. Das ist dem Herrn hier nicht fein genug.«
    Der Kapitän schlug dem Steuermann munter auf die Schulter.
    »Eine Baracke ist das! Nichts anderes als eine Baracke!«, stieß der Steuermann in erregtem Ton hervor. »Und obendrein noch in Nyhavn, das voller Versuchungen ist. Wie soll ein Seemann vor dem Verderben bewahrt werden, wenn man nichts als eine Baracke für ihn übrig hat? Dann ist das erbärmlichste, verlausteste Hurenhaus vorzuziehen.«
    »Ich glaube nicht, dass unser Herr Jesus Christus diese Art von Sorgen hatte. War es nicht Jesus, der sich selbst mit den Vögeln auf dem Feld verglich und sagte, dass er nichts hätte als einen Stein, an den er seinen Kopf lehnen könne?«
    Der Maler sah den Steuermann spöttisch an, der verwirrt den Blick niederschlug. Dieses Argument war ihm offensichtlich nie in den Sinn
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