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Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition)

Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition)

Titel: Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition)
Autoren: Carsten Jensen
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gekommen.
    Der Kapitän blinzelte Rasmussen beifällig zu.
    »Die Arbeit ruft«, sagte er und gab Ryberg einen respektlosen Stoß, als wäre der Steuermann bloß ein lästiger Schiffsjunge, der sich in ein Gespräch unter Erwachsenen eingemischt hatte. Carl Rasmussen blieb an der Reling stehen.
    »Nein«, dachte Carl Rasmussen, »das hier ist nichts für einen Maler.«
    Der riesige Hafenbereich glich einem Schlachtfeld. Rauch stieg aus den turmhohen Schornsteinen der Dampfmühlen und Elektrizitätswerke, es sah aus, als stünde das halbe Gebiet in Flammen. Überall erhoben sich Kohleberge und versperrten die Aussicht auf die Stadt; sie glichen improvisierten, hastig aufgeworfenen Wallanlagen, hinter denen frische Schützengräben vorangetrieben wurden. Kopenhagen schien unter Belagerung zu stehen. Und der Feind hatte seinen Ring aus Eisen, Stahl, Kohle, Dampf und Feuer bereits so dicht um das Zentrum gelegt, dass der letzte entscheidende Sturm auf die dem Tode geweihte Stadt jeden Moment erwartet werden musste.
    Rasmussen hatte nicht wie der Kapitän der Peru die Hafenstädte entlang der Ufer des Jangtse gesehen, aber er hatte die Themse befahren und die Londoner Docks erlebt. Ein Weltenbrand lief über die Kontinente und legte alles, was er kannte, in Schutt und Asche. Im Hafen von Kopenhagen befand er sich nicht länger in Dänemark, sondern im vulkanisch pumpenden Herzen der Zukunft, inmitten eines so gewaltigen Energieausbruchs, wie ihn sonst nur die Natur auslösen konnte. Er war Maler, aber hier wurde er blind.
    Carl Rasmussen hatte die Frage des Kapitäns beantwortet, indem er das Dänemark pries, das er kannte. Aber er hatte mechanisch altbekannte Phrasen und ausgemusterte Glaubensbekenntnisse wiederholt, um seine eigene Unruhe zu verbergen.
    Zum zweiten Mal in seinem Leben befand er sich auf dem Weg nach Grönland. Um ein Gegengewicht zu finden? Eine Kraft, die noch stärker war als diejenige, die hier ihre Hand im Spiel hatte? Vielleicht suchte er eine Seele, einen Blick? Oder wünschte er nur, wieder auf einem zugewachsenen Pfad wandern zu können, den er allzu früh verlassen hatte? Er wusste es nicht. Er fühlte lediglich, dass er fortmusste. Und die Worte des Kapitäns über Hafenarbeiter, die an den Ufern des Jangtse und auf den Kais von Kopenhagen identisch reagierten und sofort anfingen zu rennen, sobald eine Last auf ihre Schultern gelegt wurde, lösten ein sonderbares Echo in ihm aus.
    »Vielleicht hat er recht«, dachte Carl, »vielleicht bin auch ich ein Hafenarbeiter des Herzens und renne mit meiner inneren Last.«
    Im nächsten Augenblick ging ihm der entgegengesetzte Gedanke durch den Kopf: »Vielleicht laufe ich nicht, um sie zu schultern. Vielleicht laufe ich, um ihr zu entkommen?«
     
    Sie ließen die Hafeneinfahrt hinter sich und gingen auf Reede vor Anker. Der Arzt erschien kurz nach Mittag an Bord und nahm die Mannschaft ein letztes Mal in Augenschein. Nach einer Weile brachte er jenen großen, gebückt gehenden Mann aus dem Mannschaftsraum, der mit dem tief in die schweißige Stirn gedrückten Bowlerhut angemustert hatte. Auf der Schulter trug er seinen Seesack. Niemand sagte ein Wort, als die beiden Männer zur Leiter gingen, um in den Schlepper zu steigen, der sie zurück zum Kai bringen würde. Der Mann presste die Lippen zusammen und sah blass aus. Er blickte hinunter aufs Deck. Die Untersuchung des Arztes hatte offenbar eine ansteckende Krankheit ergeben; nun musste er abmustern. Der Arzt hielt ihn am Arm, als wäre der unglückliche Seemann ein Arrestant, dessen Flucht er zu verhindern suchte. Als sie die Reling erreichten, riss der Mann sich los und drehte sich zur Besatzung um, die ihm stumm mit den Augen gefolgt war.
    »Ihr Haufen Scheiße!«, brüllte er.
    Sein Gesicht wurde von dem Wutanfall verzerrt.
    »Glaubt ja nicht, dass ihr was Besseres seid! Ihr werdet noch allesamt Glasscherben pissen!«
    Er sah den Arzt höhnisch an, der ihn wieder mit einem festen Griff am Oberarm packte. Dann kletterte er ohne Widerstand die Leiter hinunter. Als der Schlepper Kurs auf den Hafen nahm, stand er am Steven und starrte auf die Stadt, als hätte er die Heuer bereits vergessen, die er gerade verloren hatte.
    Von nun an war Landgang nicht mehr gestattet. Der Klüverbaum wurde gesetzt und das Schiff seeklar gemacht. Um vier kam das Postboot.
    Die ganze Nacht blies eine gleichmäßige Brise und das Schiff zerrte an den Ankerketten.
    Carl Rasmussen stand an Deck und blickte lange auf die
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