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Rain Song

Rain Song

Titel: Rain Song
Autoren: Antje Babendererde
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Holzkästen.
    Hanna blieb in der Tür stehen. Ihr Blick wanderte durch den Raum, der sie unwillkürlich an ein Museum erinnerte. Sein kunstvoll verziertes Tanzgewand hatte Matthew Ahousat über einen Stuhl geworfen, auf dem Bett lag die Wolfsmaske, die er auf dem Potlatch getragen hatte. An den Wänden hingen verschiedene andere Masken: die eines Raben und eines Bären, eine bewegliche, Furcht einflößende Maske mit roten Haaren und Kupferaugen. Federn sprossen aus ihrem Kinn.
    Hanna sah unzählige Miniaturpfähle in den Regalen. Bemalt, holzbelassen oder schwarz glänzend. Puppen aus Holz mit echtem Haar. Ein aufgeklapptes hölzernes Herz mit einer Eule im Inneren. Bleiche Totenmasken, deren hohle Augen Hanna anzustarren schienen.
    Sie schauderte. Es war unheimlich in diesem Zimmer.
    »Wonach suchst du?«, fragte sie zaghaft.
    Greg antwortete nicht. Er schien vergessen zu haben, dass sie überhaupt existierte. Jeden Winkel des Zimmers durchforstete er. Hanna sah den fiebrigen Glanz in seinen Augen, der ihr Angst machte. Er zog die Schubladen am Schreibtisch seines Vaters heraus und stieß schließlich auf eine, die verschlossen war. Ohne Erklärung drängte er sich an Hanna vorbei und kehrte einen Augenblick später mit einem Armeemesser zurück. Er brach die Schublade auf und hielt abrupt in seinem Treiben inne. Greg schien gefunden zu haben, wonach er suchte.
    Hanna trat näher und warf einen Blick in die Schublade. Darin befanden sich Briefe. Briefe, die Jim Kachook aus Deutschland an seinen Wahlvater geschrieben hatte. Und jene Briefe, die Hanna an Jim geschrieben hatte, nachdem kein Lebenszeichen mehr von ihm gekommen war.
    Er hat meine Briefe gelesen.
    Hannas Herz schlug wie eine Trommel, als ihr die Ungeheuerlichkeit bewusst wurde. Sie nahm die geöffneten Briefe aus Gregs Händen entgegen und setzte sich auf das Bett. Wieder und wieder ging sie den Stapel durch und las die Anschrift auf jedem der Umschläge. Tränen verschleierten ihren Blick. Greg legte seine Hände auf ihren Arm, um sie in ihren monotonen Bewegungen aufzuhalten.
    Mit ausdrucksloser Stimme sagte Hanna: »Dein Vater hat sie alle gelesen.« Da war ein Geschmack auf ihren Lippen, wie eine rasche, tiefe Verwundung. Dieser bösartige alte Mann hatte ihre Geheimnisse gelesen. Die Eingeständnisse ihrer Einsamkeit und ihrer körperlichen Sehnsüchte. Hanna hasste Matthew Ahousat dafür.
    Greg hockte am Boden. »Wo kann er bloß sein?«
    »Vielleicht in seiner Werkstatt?«
    Das Klappen der Eingangstür ließ beide in die Höhe fahren. Matthew Ahousat erschien in der Tür seines Zimmers. Sein Gesicht war schmutzig und die Haare standen nach allen Seiten vom Kopf ab. Flecken aus schaumigem Speichel sprenkelten seine Lippen. Er sah aus wie ein wütendes Tier. Nur seine Augen strahlten eine gefährliche Ruhe aus. Die Ruhe dessen, der die Wahrheit schon kennt.
    »Nun«, sagte er, »hast du gefunden, wonach du gesucht hast, mein Sohn?«
    Greg hielt die Briefe in die Höhe. »Warum hast du gelogen, Vater?«
    »Weil es so das Beste war.«
    »Das Beste für wen? Für Jim?«
    »Für dich, Greg. Meinen richtigen Sohn, mein eigen Fleisch und Blut.«
    Greg bewegte sich auf seinen Vater zu, den Körper angespannt. »Wo ist er, Vater? Wo ist Jim?«
    Matthew Ahousat warf den Kopf in den Nacken und aus seinem Inneren kam ein vernichtendes Gelächter. »Ich weiß es nicht.«
    »Du lügst«, sagte Greg. »Jim ist damals nach Neah Bay zurückgekommen. Er war hier, Vater. Grace Allabush hat ihn gesehen und Annie hat sein Taschenmesser gefunden.«
    »Annie?«, entfuhr es dem Alten, »du hast mit Annie über Jim gesprochen?« Verständnislos blickte der alte Ahousat seinem Sohn in die Augen. »Sieben Jahre war Jim mit Annie zusammen, bis diese Frau auftauchte«, er stieß mit dem Zeigefinger nach Hanna, »und er Annie ohne ein Wort der Erklärung verließ.«
    Matthews Offenbarung versetzte Hanna einen Stich.
    »Ich glaube dir kein Wort«, sagte Greg, doch mit einem Mal schien er verunsichert zu sein.
    Am liebsten wäre Hanna aus diesem Zimmer geflohen und hätte sich irgendwo verkrochen. Für sie brach eine Welt zusammen. Sie hatte Jim geliebt und ihm vertraut. Konnte man sich so in einem Menschen täuschen? Hanna war verletzt und zum ersten Mal, seit sie hier war, fühlte sie sich schuldig.
    »Flora hat die beiden beobachtet, jahrelang.« Matthew wandte sich an seinen Sohn. »Du hättest die Dinge wieder in Ordnung bringen können, Greg. Du hättest gutmachen können,
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